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Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies

Titel: Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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weiß, seine Augen geschlossen. Er regte sich nicht. Wie ein toter Fisch im Netz hing er im Geäs t d es umgestürzten Baums, gleich neben ihr, und vor Erleichterung machte ihr Herz einen Sprung.
    Es war eine elende und gefährliche Plackerei, den bewusstlosen Aelvin so weit aus den Zweigen zu befreien, dass sie ihn am Baum entlang mit sich an Land zerren konnte. Die Strömung drückte sie mit ungeheurer Kraft immer wieder gegen das Holz. Die durchtränkte Wolle ihrer Kleidung zog sie abwärts und verhakte sich ein ums andere Mal in den Ästen. Sie brüllte Aelvin an, gefälligst aufzuwachen und ihr zu helfen, aber er zeigte kein Anzeichen von Leben außer dem schwachen Heben und Senken seiner Brust, das ihr immerhin verriet, dass sie keinen Toten geborgen hatte.
    Es dauerte eine halbe Ewigkeit, ehe sie die Baumkrone hinter sich ließ und an dem glatten Stamm entlang etwas leichter vorankam. Libuse spürte endlich Boden unter ihren Füßen, hart und felsig, voller scharfer Kanten und Stolperfallen. Dann war sie an Land und zerrte Aelvin neben sich auf den festgefrorenen Schnee.
    Sie befanden sich am linken, am östlichen Ufer der Morava. Der Fluss hatte sie wohl ein gehöriges Stück nordwärts getragen, wenn auch nicht bis zurück zu den Felsklüften. Ihre Gefährten waren auf der rechten Seite zurückgeblieben. Das bedeutete, dass sie irgendwie den Fluss überqueren mussten.
    Der Gedanke an die anderen tat weh, mehr noch als die Kälte, die längst kein Frieren mehr verursachte, sondern ein Brennen wie tausend Wespenstiche. Vier der Räuber mochten sie vorhin besiegt haben, aber da waren noch mehrere auf dem Schlachtfeld gewesen, ganz zu schweigen von dem berittenen Trupp, der sich von Süden her genähert hatte. Gegen ihren Willen sah Libuse wieder die offenen Halsstümpfe der Leichen vor sich: rotbraune Eiszapfen und strähnig gefrorenes Blut an ausgefransten Wundrändern.
    Ihre Tränen brannten heiße Bahnen in den Eisfilm auf ihrem Gesicht, während sie Aelvin von hinten unter den Achseln packte und ein paar Schritt hangaufwärts zog, bis zu einem Krater, den der entwurzelte Baum im Erdreich hinterlassen hatte. Es war eine Eiche, die gemeinsam mit ein paar anderen Bäumen vom Fluss unterspült und umgestürzt worden war. Stränge des Wurzelwerks waren noch immer im Boden verankert, und Libuse spürte, dass da noch Leben war, ein Hauch nur, das fahle Nachglühen eines einstmals lodernden Feuers. Genug, hoffentlich, um das Erdlicht zu beschwören und ihnen beiden Wärme zu spenden.
    Sie zerrte Aelvin die nasse Kleidung vom Leib, bis er nackt vor ihr im Schnee lag. Ihr blieb keine Zeit, für sich dasselbe zu tun, sonst würde er vor ihren Augen erfrieren. Er sah aus, als wäre er längst tot, die Haut ganz weiß, mit einem Stich ins Blaue.
    Sie hockte zwischen den Wurzeln und rückte seinen Leib in einem engen Bogen um ihre Knie, damit er sich so weit wie möglich im Zentrum des Erdlichts befand. Sie spürte ihre Hände nicht mehr. Ihr Zähneklappern war nur ein Geräusch unter vielen.
    Mühsam versuchte sie, sich zu konzentrieren. Die Gesichter der anderen tanzten hinter ihren geschlossenen Augenlidern. Das raue, herzliche Lächeln ihres Vaters aus besseren Zeiten. Vielleicht alle tot.
    Sie ertastete Wärme, Reste von Leben in dem Gehölz. Durch einige der Wurzeln floss noch immer etwas von der Kraft, die durch den Boden und alle Pflanzen strömte und die Eiche jahrhundertelang aufrecht gehalten hatte. Sie spürte die Macht der Erde und des Holzes, hörte ihr Wehklagen über den Fall des großen Baumes, fühlte die Bereitschaft, aus der Finsternis auszubrechen, wieder zu scheinen, zu wärmen, Leben zu spenden.
    Das Erdlicht kroch aus den gefrorenen Spalten unter dem Schnee und aus den Wurzeln der Eiche, floss um Libuse un d A elvin und erhellte die anbrechende Dunkelheit wie plötzlicher Flammenschein. Libuse erschien es wie eine gleißende Säule, die rund um sie gen Himmel strömte, mehr Kraft, als sie erwartet hatte, so als wäre da ein unterirdisches Reservoir, das lange, viel zu lange nicht angezapft worden war.
    Ihre Augen waren geschlossen, aber sie sah die Glut durch ihre Lider hindurch, ein vernetztes Aderwerk aus purem Licht, das seine verästelten Arme durch Aelvin und sie selbst webte, geheime, magische Punkte in ihnen berührte und die Kälte schlagartig ersetzte. Nicht nur durch Wärme, sondern den Willen, nicht mehr zu frieren, warm und gesund und voller Lebenskraft zu sein.
    Aelvin bewegte sich,

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