Das Camp
zweimal. Beim dritten Versuch knackte es. Ein einzelner langer Riss zog sich schräg durch das Glas. Beim nächsten Schlag brach ein handgroßes Stück heraus und zersplitterte gleich darauf unten zwischen den Gleisen auf einer Betonschwelle. Danach war kein Halten mehr gewesen. Sie hatten sich förmlich darum gerissen, wer als Nächster mit dem Gullydeckel an der Reihe war. Den Rest hatten sie dann mit ihren Pfählen und Zementplatten erledigt. Einen Höllenlärm musste das gemacht haben. Trotzdem dauerte es eine Ewigkeit, jedenfalls war es Luk so vorgekommen, bis auf der Bahnhofstraße ein Streifenwagen heranjagte.
»Ey, sie kommen!«, rief jemand.
Die Bullen hatten es offenbar darauf angelegt, sie zu überrumpeln.
Erst im allerletzten Moment, während er schon voll auf die Bremse stieg, schaltete der Fahrer Blaulicht und Sirene ein.
» Dann sind wir weggelaufen «, schrieb Luk.
Er zählte die Blätter. Fast viereinhalb Seiten hatte er mit seinen ungelenken Buchstaben gefüllt. Das musste reichen.
9
Erst am Abend, kurz nachdem Luk von draußen den lauten Gesang der zurückkehrenden Jungentrupps gehört hatte, wurde wieder der Schlüssel ins Schloss geschoben. Die Tür öffnete sich. Jemand stieß mit dem Fuß einen Pappteller in den Raum. Irgendetwas flog hinterher. Dann schloss sich die Tür wieder.
Auf dem Teller befanden sich zwei fast fingerdicke Scheiben Schwarzbrot, daneben ein Klacks rote Marmelade und ein Häufchen bleiche Butter, nee, Margarine war das wohl. Das Wurfgeschoss entpuppte sich als eine Mineralwasserflasche. Aber Mineralwasser war da garantiert nicht drin, eher Leitungswasser. Die Flasche war so oft wieder aufgefüllt worden, dass vom Etikett alle Farbe abgerieben war.
Weder ein Messer noch eine Gabel befanden sich auf dem Teller. Luk wollte schon gegen die Tür schlagen und um ein Besteck bitten, aber dann nahm er einfach den Zeigefinger und verteilte damit die Margarine und die Marmelade auf den Brotscheiben. Das Brot war vertrocknet und schmeckte nach nichts. Noch vor ein paar Tagen, in seinem anderen Leben, hätte er so was nicht angerührt. Zu Hause hatten sie
Bio-Brot gegessen oder frisch aufgebackenes Baguette. Jetzt schlang er die trockenen Scheiben hinunter. Als er die Kunststoffflasche an die Lippen setzte, sah er, dass die Öffnung verdreckt war. Egal. Er ließ das Wasser bis zum letzten Tropfen in sich hineinlaufen.
Am nächsten Morgen wurde er von einem Mann geweckt, der sich ihm als sein neuer Zugführer vorstellte. »Pannewitz ist mein Name. Aber für dich bin ich einfach Herr Zugführer. Klar?«
Luk hatte sich aufgesetzt. »Klar«, sagte er.
»Klar was ?«
»Klar, Herr Zugführer«, sagte Luk.
»Du bist meinem Zug überstellt worden. Zug 3. Klar?«
»Klar, Herr Zugführer!«
»Zug 3 besteht aus drei Gruppen, die wiederum je einem Gruppenführer unterstehen. Du gehörst Gruppe 3 an. Klar?«
»Klar, Herr Zugführer.«
Pannewitz war vielleicht 30 Jahre alt. Sein Aufzug erinnerte ein bisschen an die neuen dunkelblauen Polizeiuniformen in einigen Bundesländern. Nur dass er natürlich keine Dienstgradabzeichen auf den Schultern hatte. Seine Jacke war kaum merklich tailliert und er trug blank gewienerte schwarze Lederstiefel.
»Wir versuchen, unseren Tagesablauf möglichst einfach zu halten, damit wir euch Jungs nicht überfordern«, sagte Pannewitz. »Jeden Morgen Waldlauf. Nach dem Frühstück geht es raus zur Arbeit. Das Mittagessen wird im Wald eingenommen. Nach der Arbeit gibt es das Abendessen. Danach ist Schulung. Um 22 Uhr ist Bettruhe. Klar?«
»Klar, Herr Zugführer.«
»Noch was? Ach ja, du bist von heute an Stufe eins. Wenn du Fortschritte machst, kannst du aufsteigen. Irgendwann
wirst du Stufe sieben erreichen und damit die Möglichkeit, hier wieder rauszukommen, wenn du dir nicht vorher noch ein paar Minuspunkte einfängst. Klar?«
Luk zögerte. Ihm fielen eine Menge Fragen ein, die er gern gestellt hätte. »Klar?«, wiederholte der Zugführer in einem Ton, der Luk signalisierte, dass er diese Fragen besser erst mal zurückstellte.
»Klar, Herr Zugführer«, sagte er.
»Wir wollen hier unsere Zeit nicht mit Quasseln vertrödeln«, sagte Pannewitz. »Vieles, was dir am Anfang ungewohnt vorkommt, erklärt sich ganz von selbst, wenn du erst mal eine Weile hier bist. Deshalb haben wir die Regel, dass alle in Stufe eins die Klappe zu halten haben. Sie dürfen nur reden, wenn ihnen das ausdrücklich von einem Vorgesetzten erlaubt wird. Klar?«
War das
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