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Das Dorf der Mörder

Das Dorf der Mörder

Titel: Das Dorf der Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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was er sich entscheiden sollte.
    Sie blinzelte. Ihr Blick wanderte über den geschlossenen Vorhang und die Stehlampe und blieb schließlich an Jeremy hängen. Ein Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel. Es ver schwand. Er konnte an ihrem Gesicht ablesen, wie die Erinnerung sich brutal ihren Weg durch ihr betäubtes Gehirn bahnte.
    »Charlie«, flüsterte sie.
    Jeremy zog einen Stuhl heran und setzte sich neben sie. Sie tastete nach seiner Hand. Die Berührung ließ nicht nur sein Herz auflodern, sie setzte seinen ganzen Körper in Brand.
    »Wo ist sie?«
    »In der Gerichtsmedizin. Die Todesursache muss eindeutig geklärt werden. Mein Beileid.«
    »Beileid.« Ihre Hand fiel herab. »Du kannst mir gestohlen bleiben mit deinem Beileid.«
    »Cara, ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
    »Dann halt den Mund. Sie wollte es so. Schon immer. Deshalb war ich auch so wütend auf sie. Und jetzt bin ich es wieder. Ich will sie schütteln, in den Hintern treten, sie anschreien. Sie hat mein Leben kaputt gemacht mit ihrer Scheiße. Seit ich denken kann, hatte ich Angst, wann sie es wieder versuchen wird. Beileid. Beileid!« Sie stieß ein trockenes Lachen aus.
    »Habt ihr …« Er räusperte sich, weil seine Kehle trocken war. »Habt ihr jemals daran gedacht, Hilfe zu suchen?«
    »Hilfe? Wo denn? Weshalb denn? Es war fast eine Erleichterung, als sie weg war. Sollen sich doch die anderen Sorgen um sie machen. Einmal hab ich sie vom Dachbalken geschnitten. Da war ich zehn. Zehn! Davor hat sie es mit Rasierklingen versucht. Oder mit einer Plastiktüte. Ich dachte, sie wollte spielen, als ich sie gefunden habe. Ich war noch ein Kind, verstehst du? Ein Kind!«
    Sie presste die Lippen aufeinander und wandte ihren Kopf in die andere Richtung. Sie wollte nicht, dass er ihr Gesicht sah.
    »Hilfe? Was wusste ich von Hilfe. Du trägst deine Schultüte und ein neues Kleid, und in der Schule sagen sie dir, du stinkst. Du willst spielen, stattdessen wirst du verprügelt. Es war, als hätten wir Aussatz. Einmal wäre sie fast verblutet. Ich konnte früher einen Druckverband setzen als lesen. Der nächste Arzt war in Jüterbog. Was hätten denn die Leute gesagt, wenn nachts ein Krankenwagen vor der Tür gestanden hätte? In die Klapse wäre sie eingewiesen worden. Das wollte ich nicht. Ich hab es immer vertuscht. Hab sie keine Sekunde mehr aus den Augen gelassen. Wenn sie nachts aufstand und in die Küche ging, bin ich aufgewacht. Wenn sie zu lange draußen bei den Schafen war, hab ich sie gesucht. Ich war …«
    Sie schluchzte. »Ich war noch keine zwölf, als sie weggegangen ist. Und ich war glücklich. Kannst du das verstehen? Glücklich, dass ein anderer sie finden wird, wenn sie es wieder tut. Dass fremde Leute ihr Blut aufwischen würden. Dass ich nicht nochmal ihr blau angelaufenes, verschwollenes Gesicht sehen muss. Glücklich. Ich schäme mich so dafür.«
    Sie weinte. Jeremy berührte sanft ihre Schulter. »Das ist normal. Du warst ein Kind und völlig überfordert. Wo waren eure Eltern?«
    »Ich … ich weiß nicht. Sie waren arbeiten oder saufen. Sie konnten auch nichts machen. Ich war allein.«
    »Allein? Mit allem?«
    »Mit allem. Oder warum glaubst du, dass ich so gut mit Tieren umgehen und sensationell kochen kann? Ach so, das weißt du ja gar nicht. Schade.«
    »Ja, schade.« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Weißt du, ob Charlie hier in Berlin wieder versucht hat, sich das Leben zu nehmen? Ich meine, bevor diese Sache im Tierpark passiert ist.«
    »Ich glaube nicht. Wir haben uns nicht mehr oft gesehen. Aber wenn, dann schien sie mir glücklich zu sein. Was heißt glücklich. Sie hatte einen Job, sie lebte ziemlich einsam, aber das war alles, was sie wollte. Keine Kontakte, nur das Nötigste. Sie war ruppig und abweisend, damit man sie in Ruhe ließ. Auch zu mir.«
    »Keine Männer?«
    »Charlie?« Verwundert schüttelte sie den Kopf.
    »Warum war sie so aggressiv? Warum diese vehemente Ablehnung, als sie dich hier in der Praxis gesehen hat?«
    Cara setzte sich auf und zog die Beine zu sich heran. Sie schlang die Arme um ihre Knie, als ob sie sich kleiner machen wollte. Sie sah Jeremy nicht an.
    »Weil ich es gewusst habe«, flüsterte sie. »In dem Moment, in dem ich sie gesehen habe, wusste ich, sie würde es wieder tun.«
    »Wie konntest du ihr das ansehen?«
    »Es war ihr Blick. Sie hat mir nicht in die Augen gesehen. Nur wenn sie wütend war, dann ging es. Aber sonst … wich sie mir aus. Schaute an mir vorbei. So wie

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