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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Turney
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gesehen.
    Die Narzissen waren in meinen Augen nichts Besonderes. Die kleinen blassgelben Blüten wippten an den grünen Stängeln, die so schmächtig wirkten, als könnten sie jeden Moment unter deren Gewicht einknicken. Die Vase an die Brust gedrückt, schritt Ellen feierlich ins Zimmer, und ich folgte ihr. Sie stellte sie neben das Terrassenfenster auf den Boden, sodass ihre Mutter sie sehen konnte.
    »Sind sie nicht wunderschön, Mama?«
    »Hat Adam sie gebracht?«
    »Ja, sicher.«
    Mrs   Brecht seufzte.
    »Ist sonst noch jemand da?«, fragte sie und hob leicht ihre kleine, gekrümmte Hand. Ich trat in ihr Gesichtsfeld und stellte die Vase neben die andere. Ich war so betroffen, sie zu einem solchen Häufchen Elend geschrumpft zu sehen, dass es mir Mühe bereitete, zu lächeln.
    »Komm und gib mir einen Abschiedskuss, Hannah«, sagte sie. »Du brauchst keine Angst zu haben, meine Krankheit ist nicht ansteckend.«
    Ich beugte mich zu ihr hinab und küsste sie auf die Stirn. Ihre Haut war kalt und wächsern.
    Ellen setzte sich auf den Rand der Tagesliege und ergriff die Hand ihrer Mutter.
    »Wie fühlst du dich, Mama?«
    »Es geht mir ganz gut, Schätzchen.«
    »Soll ich dir irgendetwas bringen?«
    »Nein, ich will nur, dass du ein bisschen bei mir bleibst. Wo ist dein Vater?«
    »Er ist weggefahren. Willst du, dass ich dir etwas vorspiele, Mama?«
    »Nein, nein«, beeilte sich Mrs   Brecht zu sagen. »Lass uns lieber die Ruhe genießen.«
    Ihre einst so vollen roten Lippen waren jetzt trocken und blass, fast gräulich.
    Ellen wickelte eine Haarsträhne um den Finger. Dabei öffnete sich ihre Jacke ein Stück, und mir fielen ein paar blaue Flecken an ihrem Oberarm auf, vier kleine hässliche Male, ganz offensichtlich Fingerabdrücke. Ellen ließ den Arm wieder sinken. Ich nahm mir vor, sie zu fragen, was passiert war, woher die Prellungen kamen, aber ich sollte keine Gelegenheit mehr dazu haben.
    Mrs   Brecht ergriff wieder mit leiser Stimme das Wort. »Die Narzissen erinnern mich an meinen Geburtstag. Ich hatte wunderschöne Kindergeburtstage in diesem Garten«, sagte sie. »Meine Mutter hat ihn dekoriert und Papierlaternen und Wimpel aufgehängt … Ach, und die Narzissen. Tausende von Narzissen. Irgendwie habe ich mir schon immer eingebildet, dass die Narzisse meine Blume ist, die eigens für mich wächst.«
    Sie lächelte und legte den Kopf zurück auf den Kissenberg in ihrem Rücken. »Ich wünschte, du hättest deine Großmutter kennengelernt, Ellen. Sie war eine nette Frau mit großem Herz. Sie hätte dich bestimmt sehr geliebt.«
    »Bestimmt, Mama.«
    Ellen warf mir einen bedeutsamen Blick zu, aber ich ging nicht darauf ein. Nichts von dem, was ihre Mutter gesagt hatte, deutete auf eine Erbschaft hin. Ich rief mir Mrs   Withiel ins Gedächtnis und dass wir Kinder aus dem Dorf sie »Die Hexe« genannt hatten. Dass sie fast drei Wochen lang tot in Thornfield House gelegen hatte, ehe man ihren Leichnam entdeckte. Ich wickelte ebenfalls eine Haarsträhne um den Finger und kaute an den Haarspitzen. Das Ticken der Kaminuhr war zu hören, und irgendwo aus dem Haus erklangen Staubsaugergeräusche.
    »Ich habe das Warten so satt«, sagte Mrs   Brecht leise. »Wirklich, ich kann nicht mehr.«
    Ellen beugte sich erneut zu ihr hinab und küsste sie auf die Stirn. »Die Schwester wird bald da sein. Brauchst du in der Zwischenzeit noch etwas, Mama?«
    »Zieh bitte die Vorhänge noch weiter zurück. Binde sie zusammen, sodass ich den ganzen Garten sehen kann.«
    Draußen grub Adam ein Blumenbeet um, er trug eine dunkle Jacke und Stiefel. Es war so kalt, dass sein Atem weiße Wölkchen bildete. Glitzernder Raureif umhüllte die Bäume. Es war, als blickte man in eine Schneekugel mit einer Winterlandschaft.
    »Ich kenne ihn von klein auf«, sagte Mrs   Brecht im Flüsterton. »Lange, bevor ich deinen Vater kennenlernte, war ich schon mit Adam befreundet.«
    Ellen streichelte ihre Hand.
    Mrs   Brecht lächelte. »Als Kinder haben wir beim Blumenfest in Helston miteinander getanzt. Wir haben immer gesagt …«
    »Was, Mama?«
    Ellens Mutter schloss langsam die Augen und drehte den Kopf zur Seite, als versuche sie, sich an diese vor Ewigkeiten gesprochenen Worte zu erinnern.
    »Dort wäre ich jetzt am liebsten«, sagte sie. »Im Garten mit Adam.«
    »Aber es ist kalt draußen, Mama.«
    »Ich würde es nicht spüren«, sagte Mrs   Brecht. »Die Kälte macht mir nichts mehr aus.«

NEUNZEHN

    A m Samstagmorgen stand ich

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