Das Drachenboot
an, dann blickten sie auf Sven. Was war das für ein Mann? War er überhaupt ein Mann? Keiner hatte mehr Lust auf Unterhaltung, auch nicht auf Gesang oder Spiel. Hjalti erhob sich und trat das Feuer aus, und in seinem Tritt lag große Wut auf den Mann, den er aufgenommen hatte und der ihm nichts als Schande bringen würde.
Leise zog Folke sein Wams aus, rollte es fest zusammen und schob es unter seinen Schlafsack. Dann schlüpfte er hinein und schlief sofort ein.
Folke schlief traumlos tief und wachte dann plötzlich auf, ohne daß er wußte, was ihn geweckt hatte. Er lugte unter der Zeltwand hindurch und sah in die tiefdunkle Nacht. Es gab nichts, was ihn hinausgelockt hätte, denn mit den Mächten der Frostfinsternis war nicht zu spaßen. Aber er mußte pinkeln! Leise kroch er aus seinem Fellsack, hob die Zeltwand an und schlüpfte hinaus. Tau war gefallen, seine nackten Füße wurden naß, und als er sich umdrehte, sah er hinter der Burg schon den ersten Schimmer des Tages. Dann tappte er schlaftrunken von den beiden Zelten weg und schlug sein Wasser dort ab, wo er das sumpfige Gelände wußte und bestimmt weder Reusen noch Netze zum Trocknen aufgehängt waren. Während er dem Plätschern mit geschlossenen Augen lauschte, hörte er irgendwo hinter sich ein Geräusch. Von einem Nachtvogel stammte es nicht ... Jäh drehte er sich um.
Da war es wieder. Ein schabendes Geräusch, das vom Ufer herzukommen schien. Oder von den Booten. Jetzt war Folke hellwach. Leise schlich er über den Dünenkamm zum Ufer, legte sich auf den Boden und kroch wie eine der Robben vor Erri auf die Boote zu.
Erst als der Steven des »Grauen Wolfs« sich querab von ihm schwarz aus der Wolkenhelligkeit abhob, richtete er sich vorsichtig auf. Das schabende Geräusch ertönte leise, aber stetig. Der Sklave, dachte er, das ist der Sklave, der die Kette dünnraspelt, um sich zu befreien. Er würde den Sklaven überraschen.
Plötzlich bemerkte er eine Bewegung weit hinten im Heck des Bootes. Der Sklave hatte sich also bereits befreit. Folke blieb mitten im Wasser stehen, um nochmals über das sanfte Plätschern der Wellen am Ufersaum hinweg zu lauschen. Das Geräusch hatte aufgehört, aber mit geweiteten Augen sah er eine Bewegung oder vielmehr einen Schein wie von einer Klinge oder Schneide im Mondlicht.
Folke drehte sich ganz sacht wieder zum Ufer um. Er war zuweilen kühn, jedoch niemals tollkühn. Es würde niemandem nützen, wenn er selber mit gespaltenem Schädel im Wasser trieb. Und gegen einen Mann, der eine der langschäftigen Streitäxte zur Hand hatte, die im Boot lagen, und dabei eine halbe Manneslänge über ihm stand, würde er mit seinem kurzen Messer nicht ankommen. Einen weiteren Mann brauchte er mindestens.
Als er den Strand endlich erreicht hatte, nahm er keine Rücksicht mehr darauf, ob man ihn hörte oder nicht, sondern stürmte auf die Düne. Hinter ihm polterten Steine den Wall hinunter und plätscherten ins Wasser. Der andere war schneller. Ohne daß Folke ahnte, wie nah der Verfolger war, ja sogar ohne daß er überhaupt von ihm wußte, stand plötzlich ein Schatten neben ihm. Der Schatten holte aus und schlug zu.
Als Folke wieder erwachte, graute der Morgen, und zwischen den Häusern bellte ein Hund. Langsam setzte er sich auf und öffnete die Augen erst, nachdem das Kreisen in seinem Kopf aufgehört hatte. Dann kroch er die wenigen Schritte zum Zelteingang, und ihm war, als müßte er die schmale, kalte Brücke Bifröst zwischen Midgard und Asgard über einem tiefen Abgrund bezwingen. Zuweilen fühlte er sich stürzen, aber dann spürte er das Gras zwischen seinen Fingern und zog sich verbissen vorwärts.
Am ersten Sack, der ihm im Zelt in die Finger kam, zerrte er, bis der Besitzer wütend Laut gab.
Das nächste Mal kam Folke zu sich, als mehrere Männer ihn umstanden und auf ihn hinuntersahen. »Seht auf dem Boot nach«, krächzte er mühsam. Während ihm der Kopf wieder ins Gras sank, hörte er Schritte, die sich entfernten. Gleich darauf erscholl Hrolfs Stimme: »Der Sklave ist fort!« Ein Wutgebrüll erhob sich.
Da die Männer nun alle zum Boot liefen, hatte Folke Zeit, sich aus seiner entwürdigenden Lage aufzurappeln und sich wenigstens hinzusetzen. Er lehnte mit dem Rücken an der Zeltstange des Eingangs und bekam auch seine Augen wieder auf, als Hjalti mit einem Sprung vor ihm stand. »Erzähl, was passiert ist«, forderte Hjalti knapp. Die Männer machten finstere Gesichter, als Folke berichtete. Sie
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