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Das dritte Leben

Das dritte Leben

Titel: Das dritte Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Cordes
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weiterleben? Weiterrennen, weiterhasten, immer im Kreis, ein Tier, gehetzt, verlassen, allein.
    Sie stolperte über abgestorbenes Heidekraut. Dort hinten steht eine Bank. Ausruhen. Nachdenken. Aber wozu?
    Nicht denken! Nur nicht denken!
    Meine Mutter heißt Alexa. Sie ist schön. Teuflisch schön. Sie hat mich verschenkt, verraten und verleugnet.
    Sie wollte mich in eine Anstalt sperren lassen!
    Renate taumelte über den Waldweg. Schnee wirbelte auf zu Geisterschemen. Hell, dunkel. Dunkel, hell. Bizarr leuchtet die Nacht, bizarr stehen die Schatten.
    Renate stolpert über einen Strunk, läuft weiter, sieht nichts, hört nur die Stimme Alexas: »Das alles ist doch nur ein Silvesterscherz, nicht wahr, mein Kind? Aber Viktor … solch ein hübsches junges Ding wird doch nicht auf so eine dumme Idee kommen – Erpressung!«
    Und ihre flackernden Bernsteinaugen. Mutter. Mutter!
    Eine Straße! Glatt unter ihren Füßen.
    Zwei weiße Scheren schneiden die Nacht entzwei. Renate hält geblendet die Hand vor die Augen.
    Stolpert zurück. Will schreien. Schreit auch.
    Aber da war es zu spät.
    »Mon dieu!«
    Der Jeep kam mit einem Kreischen der Bremsen zum Stehen. Der Beifahrer sprang heraus, lief um den Wagen. Im Licht der Scheinwerfer glänzte die silberne Spange auf, die er an seinem roten Fallschirmjägerbarett trug. Er beugte sich vor. Seine Hände griffen in Blut. Er richtete sich schnell auf. »Jean!«
    Der Fahrer schwang sich aus dem Streifenwagen, kam dazu.
    »Oui.« Der mit dem roten Barett kniete im Schnee. »Une ambulance!« befahl er.
    Jean lief zum Jeep zurück, hob die Sprechmuschel des Funkgerätes ab.
    »Chasseur quinze pour Chasseur central – écoutez … écoutez …«
    Sergeant André Gironde strich Renate die blutverkrusteten Haare aus dem Gesicht, hob ihre Augenlider. Er tastete nach dem Puls. Das Herz schlug hart und regelmäßig.
    Platzwunde an der linken Stirnseite. Abschürfung auf dem linken Handrücken. Sonst konnte er nichts entdecken. Er zog seinen Mantel aus, legte ihn über Renate.
    Er richtete sich auf. In der Ferne ertönte das scharfe Heulen der Ambulanz.
    Schweigend warteten die beiden französischen Soldaten, bis das rote Flackerlicht zwischen den Bäumen auftauchte.
    »Keine Papiere?« fragte Capitaine Bernardhais.
    »Non, mon Capitaine. Keine Papiere«, meldete Sergeant Gironde.
    Der Capitaine strich seinen schwarzen Schnurrbart. »Unangenehme Sache. Mitten in der Neujahrsnacht.« Er trank in kleinen Schlucken von dem starken schwarzen Kaffee, den er mit einem Schuß Framboise-Likör gewürzt hatte.
    Er lehnte sich zurück. Das Büro war desolat wie immer, zwei alte Aktenschränke, der von Zigarettenkippen schwarzgenarbte Schreibtisch, der harte Büroschemel, der quietschende Korbsessel für Besucher. Die Tagesbefehle auf der Tafel an der Wand.
    Frankreich in Berlin. Unsere Präsenz. Wir sind da, und wir bleiben immer da.
    Capitaine Bernardhais räusperte sich. »Flüchtling? Von drüben?« frage er vorsichtig.
    In Sergeant Girondes Gesicht rührte sich nichts. »Schwer zu sagen, mon Capitaine. Aber möglich ist es.«
    »Aus welcher Richtung kam sie?«
    »Von der Mauer, mon Capitaine.«
    Bernardhais griff zum Telefon. »Verbinden Sie mich mit der Polizei«, sagte er. »Aber nein, nicht unsere, die deutsche Polizei! Politische Abteilung. Ja, ich warte.«
    »Wiederholen Sie doch noch einmal Ihren Namen«, sagte der Mann am Telefon.
    »Gertner«, sagte Richard geduldig in die Muschel, »Richard Gertner. Ich suche meine Tochter Sabine Gertner. Sie ist einssiebzig groß, hat braune, ins Blonde gehende Haare, gelbe Augen. Sie trägt einen schwarzen Mantel mit einem schwarzen Fuchskragen.«
    »Gertner«, wiederholte der Beamte, »einen Augenblick bitte.«
    Ein Klicken in der Leitung, dann nichts mehr.
    »Hallo, hallo!« rief Richard. Er klemmte den Hörer zwischen Ohr und Schulter, trocknete sich die schweißnassen Hände an seinem Taschentuch ab.
    Hallig brachte ihm eine Tasse Tee. Richard lächelte dem jungen Mann dankbar zu.
    Hallig lächelte zurück. Seine Augen waren rot umrandet.
    »Hören Sie?« fragte die blecherne Stimme am Telefon.
    »Ja doch!« rief Richard verzweifelt.
    »Bitte, kommen Sie zur politischen Polizei, Amt vierzehn.«
    »Zur – wie bitte?«
    »Politische Polizei, Amt vierzehn, Augsburger Straße zweihundertzwölf.«
    Richard warf den Hörer auf die Gabel, lief zur Tür. »Kommen Sie«, rief er Hallig zu und raffte noch seinen Mantel vom Bett, zog ihn im

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