Das dritte Leben
mußte, was Alexa ihm angetan hatte. Niemals durfte er auch nur ahnen, was in jenen Tagen und was an diesem heutigen Abend geschehen und gesprochen worden war; weder er – noch ihre Söhne.
Sie schloß die Augen. Sie hätte gebetet, wenn sie es gewagt hätte.
Reinhards Stimme sagte: »Bitte, hier herein.« Und dann: »Alexa, Herr Gertner möchte mit dir sprechen!«
Sie blieb liegen, reglos, bis ihr Mann sie an der Schulter berührte.
»Ich bin krank … Ich möchte niemanden sehen«, murmelte sie.
»Es ist sehr wichtig«, sagte eine fremde Stimme von der Tür her.
Langsam richtete Alexa sich auf. Jetzt geschieht es, dachte sie in dumpfer Verzweiflung, gleich ist es vorbei.
11
Hellmut Hallig ging unruhig in seinem Zimmer im Hotel Thober auf und ab. Seit zwei Stunden war Renate unterwegs, und immer noch kein Wort von ihr.
Er rauchte Kette. Zündete sich eine Zigarette an der anderen an.
Das Telefon klingelte.
Er stürzte hin.
Eine Männerstimme. »Wer ist da? Falsch verbunden –« Fluchend warf Hellmut den Hörer auf die Gabel. Nahm ihn wieder auf.
Der Portier meldete sich.
»Könnte ich etwas zu trinken bekommen?«
»Ja, natürlich.«
»Schicken Sie mir eine Flasche Ballantines-Scotch. Und Eis.«
Als der Whisky kam, trank er das erste Glas in einem Zug.
Er blickte auf die Uhr. Es war genau halb eins.
Vor einer halben Stunde hatte das neue Jahr begonnen. Was würde es ihm bringen? Naja, vielleicht eine Gehaltserhöhung. Vielleicht den Job, von dem er träumte: festangestellter Kriminalreporter bei der ›Nürnberger Morgenpost‹. Oder, ganz geheim ersehnt, ein Angebot aus München. Er klopfte auf Holz. Vielleicht, vielleicht.
Aber dann kreisten seine Gedanken wieder um Renate. Welch ein Mädchen! Schon immer hatte er ein solches Mädchen gesucht.
Er hatte nicht viel Erfahrung mit Frauen, trotz seines forschen Auftretens. Er war hinter der Maske des fröhlichen Kumpans, mit dem man Pferde stehlen kann, ein schüchterner, vielleicht sogar ein wenig zu empfindsamer junger Mann. Und deshalb machte er sich Sorgen um Renate.
Wenn sie nicht in zehn Minuten angerufen hat oder zurück ist, dann fahre ich trotz ihres Verbots zu diesen Berglunds hin, schwor er sich.
Die Minuten verstrichen. Gebannt starrte er auf die Uhr.
Welch ein Schicksal! Eine Mutter zu suchen, die einen verschenkt hat!
Mitleid erfüllte ihn, und noch etwas anderes, worüber er sich selbst aber nicht im klaren war: Liebe.
Die Zeit verrann. Langsam zerdrückte Hellmut die Kippe der letzten Zigarette im Aschenbecher.
In diesem Moment schrillte das Telefon. Seine Hand zuckte zum Hörer.
»Ja, hallo, hier Hallig!«
»Herr Hallig?«
»Ja doch!«
»Hier spricht Gertner, Richard Gertner, Renates Vater!«
»Ja, das ist ja Klasse! Wo sind Sie denn?«
»Ich bin hier unten in der Halle des Hotels. Ist Renate bei Ihnen?«
»Renate? Nein. Ich warte schon seit über zwei Stunden auf sie!«
Stille am anderen Ende der Leitung. Dann die plötzlich müde Stimme Gertners: »Ich komme zu Ihnen rauf!«
Sie saßen in dem Hotelzimmer und warteten.
Es war zwei Uhr. Langsam, unendlich langsam krochen die Zeiger von Halligs Reisewecker auf dem Nachttisch weiter.
Sie hatten einander alles berichtet, was es zu berichten gab: Hallig, der junge Mann, von Renates Entschluß, noch heute nacht zu Alexa zu fahren; Richard von seinem vergeblichen Besuch bei den Berglunds.
Ja, sie war dort gewesen, hatte Alexa zugegeben, die ›junge Dame‹. Mit keiner Silbe hatte Alexa erkennen lassen, ob Renate sich ihr offenbart hatte oder nicht; ja, die ›junge Dame‹ sei dann kurz vor zwölf wieder gegangen. Nein, sie wisse nicht, was die ›junge Dame‹ eigentlich von ihr gewollt habe, sie sei etwas seltsam gewesen, aber das seien doch die meisten jungen Leute heutzutage, nicht wahr?
Berglund hatte schweigend dabeigestanden, nicht die Augen von seiner Frau gelassen.
»Noch eine Viertelstunde«, sagte Richard, und seine Worte fielen schwer in das Schweigen, welches das Hotelzimmer füllte. »In einer Viertelstunde rufe ich die Polizei an.«
»Wir sollten es gleich tun«, sagte Hallig nach einem neuerlichen Blick auf die Uhr.
Richard erhob sich, ging zum Telefon. Hob den Hörer ab. Wartete.
Dann sagte er laut und deutlich: »Bitte, geben Sie mir die Polizei.«
Wie sie hierhergekommen war, wußte Renate nicht. Da waren Bäume, Gebüsch, ein Waldweg. Schnee lag, ein frisches Leichentuch auf dem toten Tag, der in die Nacht versunken war.
Warum noch
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