Das dritte Leben
Hinauslaufen an.
»Wohin?«
»Zur politischen Polizei!«
Verblüfft folgte Hallig ihm.
Das Taxi kam mit einem glitschenden Rutschen der Reifen zum Stehen. Richard und Hellmut sprangen heraus, liefen über die Straße zum Amt der politischen Polizei.
»He«, rief der Taxichauffeur hinter ihnen her. »Mein Geld!«
Die beiden achteten nicht auf seinen Ruf. Sie hasteten die drei Stufen hoch, die in das Gebäude führten.
Grelles Licht von ungeschützten elektrischen Birnen. Plakate an der Wand, Bekanntmachungen. Hölzerne Schreibtische. Eine Barriere. Rechts waren drei Türen, links eine lange Bank.
»Gertner, ich bin Gertner«, keuchte Richard. »Ich habe vom Hotel Thober aus angerufen.«
Der Beamte am nächsten Schreibtisch stand auf, musterte Richard.
»Wo ist meine Tochter?«
Der Beamte hob die Hand. »Kommen Sie!«
Zu der ersten Tür rechts. Dahinter ein langer Flur. Links eine Passage. Gedämpftes Licht. Wieder eine Tür. Der Beamte klopfte kurz an, öffnete dann die Tür. Ein Bett. Laken darüber.
Ein Mann im weißen Kittel saß auf dem Bettrand. Er hielt eine schlaffe Mädchenhand.
»Sabine!«
Richard eilte zu dem Bett. Hellmut folgte ihm.
Sie lag da, mit geschlossenen Augen.
Der Arzt hob die Hand. »Bitte Ruhe.«
»Ist sie –« Richard stockte der Atem.
»Sie lebt«, sagte der Arzt. »Sie hat allerdings einen schweren Schock erlitten.«
Er ließ die schmale weiße Mädchenhand los, schob sie unter die Bettdecke zurück. Er steckte die Decke um die Schultern fest, stand auf.
»Der Kommissar wird später noch ein Wort mit Ihnen wechseln wollen«, sagte er zu niemandem insbesondere.
Richard trat nahe ans Bett.
Meine Tochter. Nichts kann es ändern. Sie ist und sie bleibt meine Tochter. Er sank langsam in die Knie. Ich danke dir, Gott, daß sie noch lebt. Er bekam kein Wort heraus.
Leise schloß sich die Tür hinter ihm. Er blickte sich um.
»Herr Hallig?« Aber er war allein. Der junge Mann hatte ihn mit Sabine allein gelassen.
Dankbarkeit erfüllte Richard. Der Junge. Wenn er nicht gewesen wäre …
Er tastete vorsichtig nach Renates Gesicht. »Sabine«, flüsterte er.
Langsam entspannten sich ihre verkrampften Züge. Ihre Lippen öffneten sich.
»Vati«, flüsterte sie. Weich und warm. Zärtlich.
Tränen füllten seine Augen. Er mußte die Zähne zusammenbeißen.
»Vati«, nur ein Hauch. Und dann, ganz langsam, schlug Renate die Augen auf.
Es war ein fremder Raum, in dem sie sich befand, ein fremdes Bett, in dem sie lag. Sie spürte glattes Leinen unter ihren Händen, eine rauhe, aber warme Wolldecke.
Glatte schmucklose Wände. Eine weiße Decke. Die Lampe war abgeschirmt, verbreitete gedämpftes Licht.
Wo war sie? Ihr Blick wanderte über die Wände, über die Decke, wanderte zur Tür, kam zurück, konzentrierte sich auf die Gestalt neben dem Bett.
»Vati!«
Er nickte lächelnd. Sie sah Tränen in seinen Augen.
Sie wollte sich aufrichten, aber es gelang ihr nicht.
»Ich – wo bin ich?«
»Es ist alles gut, Sabine.«
»Sabine? Ich bin Renate. Ich habe meine Mutter –«
Das Entsetzen kam wieder, blitzte durch ihren Kopf. Ihre Hände lösten sich von der Decke, sie packte Richards Arm, krallte sich im Stoff seines Jacketts fest.
»Richard – ich war bei Alexa.«
»Du darfst jetzt nicht sprechen. Alles ist gut. Ich bin wieder bei dir. Ich bin gekommen, um dich nach Hause zu holen.«
»Nach Hause?«
Er nickte. »Ja, nach Hause. Du gehörst zu uns. Du bist Sabine, nicht Renate. Du bist es seit dreiundzwanzig Jahren, und du wirst es weiter sein – meine Tochter.«
Renate schluckte. »Sie hat mich … Sie haben mich – sie wollten mich –«
»Du sollst nicht sprechen!« Er befahl es ihr.
Sie richtete sich erregt auf. Ihre Wangen röteten sich hektisch. »Da war ein Mann, ein Arzt, bei ihr, der wollte mich in eine Nervenklinik stecken!« Atemlos sank sie aufs Bett zurück.
Sprachlos saß Richard da. Nervenklinik? Sie wollten Sabine in eine Nervenklinik stecken?
Es war unbegreiflich, unglaublich – es konnte nicht wahr sein. Phantasien! Sabine hatte Fieber.
»Vati! Sie hat mich behandelt wie eine Aussätzige, meine Mutter, meine eigene Mutter!«
»Sie ist nicht deine Mutter«, sagte Richard fest. »Sie hat dich geboren, aber sie ist nicht deine Mutter. Deine Mutter ist Hilde, meine Frau, die dich großgezogen hat. Danke Gott, daß es nicht Alexa war.«
Jetzt sicher, jetzt ganz überzeugend wirken, und er hatte gewonnen. Er hatte sie
Weitere Kostenlose Bücher