Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)
um ihn handelte und nicht um irgendeinen schrecklichen, anonymen, verkohlten Leichnam. Ich sah mir noch einmal die anderen an, bis Lance einen Laut ausstieß. Er hatte sein Foto gefunden, kniete sich nun davor und betrachtete es ganz genau.
»Ich hab mich gar nicht schlecht gehalten«, befand er.
Aber ich hörte ihn kaum, inzwischen war ich nämlich bei Dantes Bild angekommen, und mein Herz setzte für eine Sekunde aus. Ich beugte mich hinunter, um ganz sicherzugehen, und berührte die Makel auf seinen Zügen. Es lief mir kalt über den Rücken. Auf der einen Seite war sein Mundwinkel ein wenig nach unten gezogen, und sein Blick hatte an Leuchtkraft eingebüßt – auch wenn man ihn sehr gut kennen musste, um das zu bemerken. Viel offensichtlicher waren jedoch die roten Pusteln, die sein Gesicht übersäten. So hatte es bei Aurelias Porträt auch angefangen.
»Wir müssen irgendwas mit Dante machen«, bemerkte ich, die Augen noch immer auf das Bild geheftet. Die tonlose Stimme zeugte von meiner Erschöpfung. Lance stand auf und sah mir über die Schulter. »Die haben ihn in der Mangel, und langsam geht es bei ihm los«, setzte ich hinzu.
»Das machen wir. Auf jeden Fall«, versprach Lance. Seine Stimme klang genauso belegt wie meine, er hatte Angst, musste erst einmal alles verarbeiten.
Wir deckten die Rahmen wieder zu und machten uns langsam, leise auf den Weg zurück in mein Zimmer. Dann verabredeten wir, uns am nächsten Abend wieder zu treffen, damit Lance sich mit dem Tunnel über meinem Schrank vertraut machen konnte.
»Nacht!«, sagte er, als er ging. Nach dem langen Tag rieb er sich hinter seiner Brille müde die Augen. Ich blickte auf seine Narbe. Wir waren uns wirklich so ähnlich – irgendwie war das komisch. »Das kriegen wir schon auf die Reihe.« Er seufzte. Ich nickte nur.
Das Buch lag auf meinem Kopfkissen, als ich ins Bett ging, sonst hätte ich da gar nicht mehr reingeschaut. Mein ganzer Körper sehnte sich nach Schlaf. Ich war mir nicht einmal sicher, wie ich es überhaupt die Leiter im Schacht hochgeschafft hatte. Das hatte wohl am Essen und an Lance’ Begleitung gelegen. Es war so eine Erleichterung, nicht länger allein zu sein.
Ich hatte meinen Kittel angezogen, legte mich nun ins Bett, schob das Buch neben mich und stützte den Ellbogen auf. Dann blätterte ich in dem Büchlein, bis ich das heutige Datum und einen neuen Eintrag fand:
Dein Feuer, deine Aggressivität und dein Mut im Angesicht des Schreckens sind lobenswert. Fürchte dich nicht vor diesem Zorn, er ist für dich nun sicherer als Angst und wird dich motivieren. Versuche jedoch, ihn in kluge, gut durchdachte Handlungen zu verwandeln, das hilft allen weiter. Courage ist wichtig, doch arbeite besser im Verborgenen. Du musst deine Gefühle unter Kontrolle haben, so dass du sie im Notfall verbergen kannst und dich niemand durchschaut.
Es lief mir kalt über den Rücken, als hier von den Kräften die Rede war, über die ich angeblich verfügte, die ich aber so gar nicht spürte. Es ging noch weiter:
Erhalte die Illusion aufrecht, dass du von den Vorgängen hier nichts mitbekommst, nichts Ungewöhnliches bemerkt und keinen Verdacht geschöpft hast. Wer dich beobachtet, soll eine Praktikantin vor sich sehen, die hart arbeitet, Befehle entgegennimmt und ihre Aufgaben mit der üblichen Sorgfalt und Qualität erledigt. Insgeheim wirst du dein körperliches Training intensiv fortsetzen und mit scharfem Blick weitere Informationen sammeln. Wenn die Zeit gekommen ist, wirst du zur Tat schreiten und dich nicht länger damit aufhalten, den Schein zu wahren. Du wirst wissen, wann es so weit ist, dann wirst du in die Schlacht ziehen und danach streben, sie zu gewinnen.
Als ich hier umblätterte, wurde die Schrift größer, eine neue Dringlichkeit schien darin mitzuschwingen.
Du hast in deiner Entwicklung nun einen Wendepunkt erreicht. Es gibt kein Zurück mehr, und das heißt für dich jetzt vor allem, dass du den Geschehnissen nicht den Rücken kehren kannst. Deine Pflicht und Verantwortung würde dir nun überallhin folgen, dein Aufstieg bringt aber auch die Chance auf große Taten mit sich. Ich muss dir nun eine schwere Nachricht übermitteln, du hast jedoch das Recht davon zu erfahren und musst die Information als großes Geheimnis hüten:
Haven, am 27. Mai wirst du deinen letzten sterblichen Atemzug tun.
In diesem Moment glitt mir das Buch aus der Hand, und ich fuhr im Bett hoch. Ich hatte die Seite verloren, fand sie aber mit
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