Das dunkle Erbe
gewesen ist. Nein, so jemand lässt sich nicht übertölpeln nach allem, was er aufs Spiel gesetzt hat. Ein skrupelloser Gewalttäter, wie es dieser Mann hier wahrscheinlich war, rechnete nicht damit, in den Lauf einer Handfeuerwaffe zu starren und frontal erschossen zu werden. Er muss den Täter gekannt haben, ihm vertraut haben. Die Schüsse erfolgten kurz hintereinander, alles andere würde mich wundern.«
»Wahrscheinlich ist es heute Nacht passiert«, schaltete sich Clausing ein. »Oder am frühen Morgen, nicht nach fünf Uhr früh, die Totenstarre hat schon eingesetzt.«
»Lassen Sie mich bitte ausreden.« Hattebier hielt eine Plastikhülle hoch, in der ein Papierbehälter steckte. »Wir haben nämlich eine Patronenhülse sichergestellt, Kaliber 9 mal 19 Millimeter Parabellum. Nur eine einzige, sie ist unter dieses Bohrgerät gerollt, hat sich versteckt, gewissermaßen. Wir haben sie gleich gefunden.« Ein wohlwollender Blick zu Heide.
»Dann hat der Täter die anderen Hülsen wohl mitgenommen«, meinte Raupach.
»Anzunehmen. Er hatte auch gute Gründe dafür.« Hattebier wies auf die Plastikhülle. »Leider kann ich Ihnen die Hülse nicht zeigen, Raupach, wir wollen doch keine Spuren verwischen.«
»Auf keinen Fall.«
»Diese Hülse trägt einen Bodenstempel. Ich möchte Sie nicht mit Details langweilen, zum Beispiel, dass die Patrone in der Rheinisch-Westfälischen Sprengstoff AG, Werk Durlach, hergestellt wurde, dafür stehen die Kleinbuchstaben dnh. Oder dass sie aus Messing mit einem siebenundsechzigprozentigen Kupferanteil besteht, ein eingestanzter Stern gibt das an. Damals hat man auch Stahlhülsen hergestellt, wegen des Rohstoffmangels. Das Kürzel dafür war St . «
»Damals?«, fragte Raupach.
»So eine Hülse ist ja überhaupt der teuerste Teil einer Patrone. Der Rest, das Treibmittel, das Geschoss und das Anzündhütchen, kostet so gut wie nichts. Pulver und ein bisschen Blei, das bekommen Sie überall auf der Welt hinterhergeworfen.« Hattebier machte eine Pause. »Das, was die Menschen letztlich tötet, das Projektil, das ist spottbillig. Nur die Umhüllung, die Fassung ist teuer. Da können Sie jeden fragen, der etwas davon versteht.« Er kratzte sich am Kopf. »Ich fürchte nur, so ganz haben die Leute es nie verstanden.«
»Die Fassung«, sinnierte Raupach. Er war nicht unempfänglich für derlei Überlegungen. »Sie hält die brisante Ladung zusammen.«
»Eine Patrone ist quasi ein Teil des Schützen, der sie benutzt, wie die Waffe. Sie bleibt am Ende übrig.«
»Abfall.«
»Nein«, widersprach Hattebier, »man kann Patronen neu verladen. Sportschützen machen das, um Geld zu sparen.«
»Recycling.«
»Nur ein Nebeneffekt, als Metapher zu vernachlässigen. Ich verbinde mit einer Patronenhülse den Anfang des Mordens im großen Stil. Sie hat das Verderben in Serie ermöglicht, nicht der Hinterlader oder das Maschinengewehr, die Hülse! Zuvor stopfte man Pulver in den Lauf und dann die Kugel drauf, mehr oder weniger. Sehr umständlich, bei dieser Methode haben Sie im Nahkampf einen einzigen Schuss, und das war’s. Aber bei Patronen benötigen Sie über kurz oder lang ein Magazin und einen Mechanismus, der die Patronen transportiert. Dann können Sie mehrmals hintereinander schießen. Ein Mensch ist ja nicht so leicht totzukriegen, es braucht mehrere Geschosse, selbst auf Kernschussweite. Wie man sieht.« Er deutete auf die Leiche.
»Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«, fragte Raupach.
»Verzeihung, ich bin ins Reden gekommen.«
Hattebier wischte seinen Exkurs mit einer Handbewegung beiseite. »Für Ihre Arbeit ist vor allem das Produktionsjahr der Hülse von Belang.«
»Und das wäre?«
»1941.«
Hattebier lächelte. »Die Patrone wurde natürlich etwas später hergestellt, vielleicht 1942.«
Heide hatte jetzt lange genug zugehört. »Hier wurde Munition aus der Kriegszeit verschossen«, sagte sie. »Vermutlich mit einer Pistole. Ich tippe auf die P 08, das war die Standardwaffe der Reichswehr, oder die Walther P 38, die wurde 1938 eingeführt, konnte sich aber nicht richtig durchsetzen.«
»Später hat auch die Bundeswehr die P 38 verwendet«, setzte Hattebier pikiert hinzu. Die Kommissarin war ihm schon bei dem Fund der Patrone zuvorgekommen.
Direkt am Tatort überschlugen sich die Kollegen immer mit ersten Analysen und Mutmaßungen. Oft waren das nur unsichere Wasserstandsmeldungen, da herrschte einfach keine Diskussionskultur. Er wusste, warum er den Innendienst
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