Das dunkle Erbe
Schultern sammelten sich dicke Tropfen.
Warten gehörte nicht zu Heides Stärken. Sie drehte am Radio, bekam aber nur Dudelfunk oder Gequatsche rein. Selbst auf dem Klassiksender wurde herumpalavert, über irgendeinen Komponisten, der Musik mit neu erfundenen Instrumenten machte. Wasserharfe. Bambus-Saxophon. Gab es nicht genug von dem Zeug?
Heide mochte Gesang am liebsten, Arien, mit Streichern und Bläsern. Barockopern waren ihre Leidenschaft, Händel rauf und runter, dabei wurden wenigstens noch Geschichten erzählt, wenn auch immer nach demselben Strickmuster. So müsste es auch bei der Polizeiarbeit sein.
Bei Filmen zog sie Western vor. Da gab es auch wiederkehrende Strickmuster, aber mit einer überschaubaren Handlung. Gut und Böse waren hübsch auseinanderdividiert. Und es wurde viel geballert.
Heide liebte Schusswaffen. Nicht unbedingt im Einsatz, irgendetwas ging dann immer schief, die meisten Leute wussten nicht, mit diesen Dingern umzugehen, dachten, sie allein seien im Besitz absoluter Macht und die Polizisten nur Pappkameraden.
Das Verhältnis zu ihrer Dienstpistole war die einzige Gemeinsamkeit, die sie mit Photini teilte. Manchmal, wenn sie sich verbal bis an die Grenze beharkt hatten, trugen sie es auf dem Schießstand aus. Das löste die Anspannung, unter der sie bei der Kripo standen.
All diese Fälle seit diesem verhängnisvollen Dezember. Es kam ihr so vor, als rissen die Tötungsdelikte nicht ab. Die Menschen gingen sich immer häufiger ans Leder, die Hemmschwelle sank. Kaum zu glauben, wie viele Idioten inzwischen was zum Schießen im Schrank hatten. Wie in den USA. Geh zum Schützenverein, und du bist dabei. Wer kontrollierte das noch? Heide hatte sich angewöhnt, ihre Pistole unters Kopfkissen zu legen.
Seit der Sache mit Paul traute sie niemandem mehr. Sie hatte keine neue Beziehung angefangen. Oft wachte sie mitten in der Nacht auf, um vier oder fünf, und konnte nicht mehr einschlafen.
Wie beruhigend war es da, das kalte Metall anzufassen, den Griff, den Lauf, den gesicherten Abzug. Wenn das nicht reichte, holte sie das Magazin heraus, die einzelnen Patronen. Ließ sie durch die Finger gleiten. Sie waren schwer, schön gefährlich schwer. Dann stand sie auf, zerlegte ihre Pistole und reinigte sie, versetzte sie in den Urzustand zurück. Das Waffenöl auf ihrer Haut, dieser saubere, stechende Geruch. Sie drückte die Patronen eine nach der anderen zurück ins Magazin. Das gab ihr Schutz. Das Magazin in den Griff der Waffe hämmern. Entsichern. Zielen. Auf das Kopfkissen. Den Kleiderschrank. Die Schlafzimmertür. Das Fenster. Den Druckpunkt suchen.
Nach dieser Prozedur schlief Heide für gewöhnlich ein. Mit dem Gefühl, dass alles in Ordnung war. Wenn sie am Morgen dann aus dem Haus ging, steckte ihre Pistole in einem Holster unter der Achsel. Immer.
Raupach dagegen konnte nichts mit Waffen anfangen. Er trug aus Prinzip keine. Verkehrte Welt.
Dies alles ging Heide durch den Kopf, als sie einen Anruf von Radio Köln erhielt. Von ihrer Informantin.
Eine Hörfunkjournalistin, die sie seit Jahren kannte, hatte das Archiv des Senders durchforstet. Nach Artikeln von Sharon Springman. Die Frau hatte seit einem halben Jahr nichts mehr geschrieben. Kein einziger Artikel war von ihr erschienen, weder in der Print- noch in der Online-Ausgabe der New York Times. Aber sie wurde nach wie vor im Impressum geführt.
»Sie könnte für eine große Reportage freigestellt sein«, sagte die Stimme am anderen Ende. »Oder sie hat Urlaub genommen.«
»Ein Sabbatical?«, fragte Heide und überlegte. »Vielleicht auf eigene Rechnung?«
»Wäre nicht ungewöhnlich.«
»Worüber hat sie berichtet, als sie noch im Dienst war?«
»Hauptsächlich über das Dritte Reich, Hitler und so weiter. Das ist beliebt in den Staaten.«
»Bei uns auch.« Heide lachte hohl.
»Wenn ich durch die Kanäle schalte, kommt es mir vor, als sei immer noch Krieg.«
»Sie hat sich auf die Enteignung jüdischen Besitzes spezialisiert. Eine ganze Reihe von Artikeln zu diesem Thema stammen aus ihrer Feder.«
»Da liegen ja auch in Köln einige Leichen im Keller.«
»Pass auf, was du darüber in der Öffentlichkeit sagst. Wenn es um Sachwerte geht, die sich Deutsche in der Zeit der Judenverfolgung unter den Nagel gerissen haben, kannst du nicht einfach herumziehen und namentlich Leute beschuldigen. Schutz der Persönlichkeitsrechte, da gibt es klare Gerichtsurteile. Die meisten nachträglichen Besitzansprüche werden
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