Das dunkle Labyrinth: Roman
nichts davon gegessen hatte, hätte sie eigentlich von selbst darauf kommen können. Und auch Rose! »Würde das denn ausreichen?«, fragte sie in die sich ausbreitende Stille. Sie hatte sich auf ein Spiel eingelassen, auf eine Schlacht des Geistes, und hatte keine Zeit, sich eine neue Taktik zurechtzulegen. Der Prozess näherte sich unaufhaltsam dem Ende und damit dem Urteil. Rathbone hatte kaum noch Spielraum, und wenn die Verteidigung ihr Plädoyer begann, wäre es zu spät, neue Beweisanträge zu stellen. Abgesehen davon widerstrebte es Hester, Menschen grausam behandeln zu müssen.
Jenny schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung. Man sollte es meinen. Was wir gesehen haben … sprach jedenfalls für sich. Ich fürchte, die arme Frau war wirklich schwer berauscht.« Sie zögerte kurz. »Es tut mir sehr leid.«
Hester überlegte fieberhaft. Es musste ihr irgendwie gelingen, Jennys Mitleid auszunutzen und in Schuldgefühle umzuwandeln. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass Argyll Havillands Mörder war, moralisch, wenn nicht sogar physisch, und mit großem Geschick die Schuld auf Sixsmith abgewälzt hatte.
»Selbstverständlich«, stimmte sie Jenny zu. »Manchmal haben unsere Taten ganz andere Folgen, als wir uns das eigentlich vorgestellt haben.« Sie näherte sich nun behutsam dem Thema von Jennys Brief an ihren Vater.
Jenny schien es zu ahnen. Sie wurde leichenblass. Ihre Hände legten sich unwillkürlich auf ihren schwarzen Rock. Es fehlte nicht viel, und sie hätte die Finger ins Gewebe gekrallt. »Ich bin mir sicher, dass sie keine Vorstellung davon hat, was ein paar Pralinen anrichten können.«
»Wobei es nach der Limonade und vor den Pralinen geschah«, verbesserte Hester sie, obwohl sie sich dessen keineswegs sicher war.
»Aber wie hätte jemand …?«, begann Jenny, die sich immer noch nicht von dem Schock erholt hatte.
Hester zuckte mit den Schultern. »Ein Fläschchen von der Art, wie man sie für Medikamente benutzt. Eine kurze Ablenkung – nicht übermäßig schwierig.«
Weil Hester verstummte, war Jenny gezwungen, das Schweigen zu überbrücken. »Wer würde so etwas tun?«
»Jemand, der sie in Misskredit bringen wollte. Rose hatte sich mit den Dingen befasst, die Ihr Vater selig untersuchte, um sicherzustellen, dass nicht die Gefahr eines schlimmen Unfalls bestand, und …«<
Jenny schnitt ihr das Wort ab. »Mein Vater war wirr im Kopf! Es bestand nicht die geringste Gefahr. Die Maschinen, die die Firma meines Mannes benutzt, sind die besten, die es gibt. Dank den Fähigkeiten seiner Leute konnten sie weiter verbessert werden. Deshalb sind sie schneller – aber das heißt nicht, dass nicht aufgepasst wird.« Die Farbe war in ihr Gesicht zurückgekehrt, ihre Augen leuchteten. »Diese schreckliche Anklage ist doch nur zustande gekommen, weil mein Vater – so ungern ich dieses Wort benutze – hysterisch geworden ist.«
Hester hätte ihr beinahe geglaubt, wäre nicht der Mann gewesen, den Melisande Ewart aus Havillands Remise hatte kommen sehen. »Und deshalb haben Sie Ihrem Vater diesen Brief geschrieben, in dem Sie ihn baten, Ihren Mann im Stall zu treffen?« Sie ließ bewusst Skepsis durchklingen. »Und der arme Mr. Sixsmith soll jetzt wegen Mordes angeklagt werden?«
»Aber es ist ja gar kein Mord!«, rief Jenny mit erstickter Stimme. »Es war nur … Bestechung. Und selbst das ist Unsinn. Mein Mann wird dafür sorgen, dass er freigesprochen wird. Mr. Dobie ist ein wunderbarer Anwalt.« Sie ballte die Hände so fest zusammen, dass die Knöchel weiß schimmerten.
»Wird er das tatsächlich? Glauben Sie das, Mrs. Argyll? Wer sonst hätte schließlich den Mann, der Mr. Havilland – Ihren Vater – erschossen hat, anwerben können?«
In Jennys Gesicht spiegelten sich in schneller Abfolge die verschiedensten Emotionen wider: Entsetzen, Verwirrung, Hass, Panik; die verzweifelte Suche nach einem Ausweg vor einer Schlinge, die sich immer fester um sie zuzog und sie zwang, sich dem Unerträglichen zu stellen.
Hester beugte sich etwas weiter vor. Sie haderte mit dem Schicksal, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als Jenny so hart anzufassen. »Jemand hat diesen Mann bezahlt, damit er Ihren Vater und indirekt auch Ihre Schwester umbringt. Können Sie damit leben, dem Gericht veschwiegen zu haben, dass Ihr Mann Sie dazu veranlasst hat, Ihren Vater in einem Brief zu bitten, in dieser Nacht in seine Remise zu kommen? Können Sie wirklich unbefangen in die Zukunft gehen und Ihrem Mann bei
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