Das dunkle Labyrinth: Roman
jedem Abendessen über den Tisch und in der Nacht im Bett ins Gesicht sehen, in dem Wissen, dass Sie beide zugelassen haben, dass Aston Sixsmith gehängt wurde, obwohl Sie als Einzige seine Unschuld hätten beweisen können?«
Die Tränen flossen ungehemmt über Jennys Gesicht. »Sie haben keinen Ahnung, was Sie da von mir verlangen!«, keuchte sie. »Nicht die geringste!«
»Ich vielleicht nicht. Aber Sie sehr wohl! Und wenn Sie ehrlich sind, machen Sie sich klar, was es nicht nur Mr. Sixsmith, sondern auch Sie selbst und Ihre Kinder kosten wird, wenn Sie nicht die Wahrheit sagen! Möchten Sie auch das Ihren Kindern erklären oder lieber allein damit leben? Später, wenn sie älter sind, werden sie dann glauben, dass Sie das für sie getan haben, und Sie dafür lieben? Oder werden sie glauben, Sie hätten es aus reiner Bequemlichkeit und Ihrer Sicherheit zuliebe für sich selbst getan, und Sie dafür verachten?«
»Sie sind grausam!«, stieß Jenny hervor.
»Ich bin aufrichtig«, entgegnete Hester. »Beides scheint manchmal das Gleiche zu sein. Aber es bereitet mir nicht die geringste Freude. Sie können immer noch dafür sorgen, dass wenigstens Ihr Vater ein würdevolles Begräbnis erhält und seine Ehre wiederhergestellt wird.«
Jenny saß regungslos da, die Hände ineinander verhakt. Das Lampenlicht, das auch in der Mittagszeit nötig war, tilgte jede Farbe aus ihrem Gesicht.
»Die Wahrheit kann sehr brutal sein«, fügte Hester hinzu. »Aber im Gegensatz zur Lüge hinterlässt sie eine saubere Wunde, die nicht eitern wird.«
Jenny nickte langsam. »Bitte kommen Sie nicht noch einmal zu mir«, flüsterte sie. »Ich werde tun, was Sie sagen, aber ich kann es nicht ertragen, Sie jemals wieder zu sehen. Sie haben mich gezwungen, etwas Entsetzlichem ins Gesicht zu blicken, von dem ich glaubte, dass ich es vermeiden könnte. Erlauben Sie mir, es allein zu tun.«
»Natürlich.« Hester erhob sich und ging langsam zur Tür. Sie wusste, dass die Bediensteten sie zur Vordertür geleiten würden, vor der Morgan Applegates Kutsche auf sie wartete, um sie nach Hause zu bringen.
Am selben Morgen überquerte Monk den Fluss im von Nieselregen getrübten, grauen Licht des anbrechenden Tages. Sein erster Weg war die Polizeiwache, weil er sich vergewissern musste, dass keine neue Krise seine Aufmerksamkeit erforderte. Danach nahm er einen Hansom westwärts zum Old Bailey, wo er Rathbone treffen wollte.
»Betrunken?«, rief der Anwalt ungläubig. »Rose Applegate?«
»Und unverzeihlich freimütig«, ergänzte Monk.
Rathbone stieß einen Fluch aus, etwas, das bei ihm so gut wie nie geschah. »Wir sind am Verlieren, Monk«, sagte er betrübt. »Wenn ich nicht extrem vorsichtig zu Werke gehe, werde ich Sixsmith überführen, ob ich das will oder nicht, und Argyll spaziert als freier Mann nach Hause. Beim bloßen Gedanken daran kocht mir das Blut in den Adern, aber selbst wenn ich die Hälfte der anständigen Männer um ihn herum zerstöre, die Navvys, die Aufseher, die Bankiers und auch Sixsmith, habe ich immer noch keine Gewähr, dass ich ihn zu fassen kriege. Wäre es Rose Applegate gelungen, seine Frau zu einer Aussage zu bewegen, die unseren Mordverdacht glaubhafter erscheinen ließe, hätten wir die Anklage vielleicht noch erschüttern können.«
Mit einem tiefen Seufzer sah er Monk an. Dieser Fall ging ihm sichtlich zu Herzen. Mit den eigenen Fähigkeiten ein Glücksspiel zu wagen, lag in der Natur seines Berufs. Da war es nur logisch, dass er nicht immer gewinnen konnte, doch wenn ein anderer dafür bezahlen sollte, erschütterte das seinen Glauben an sich selbst. Es bereitete ihm Schmerzen, die er nicht gewöhnt war, und seine Verunsicherung spiegelte sich einen Moment lang auch in seinem Blick wider.
Monk war mit Selbstzweifeln vertraut. Sie stärkten ihn innerlich und ermöglichten es ihm, das Hässliche in sich zu ertragen, ja, es sich sogar zu verzeihen. Er wünschte sich, er könne Rathbone helfen, und wusste doch, dass das nicht möglich war. Es gab Wege, die jeder Mensch allein gehen musste und auf denen ihn auch der beste Freund nicht begleiten konnte, wo die einzige Möglichkeit zu helfen darin bestand, da zu sein.
»Ich sehe zu, dass ich den Mörder finde«, versprach Monk und wandte sich zum Gehen.
»Wenn Sie ihn nicht bis übermorgen gefunden haben, war alles umsonst«, brummte Rathbone. »Lieber lasse ich Sixsmith laufen und gebe den Fall auf, bevor ein Unschuldiger verurteilt wird.« Er
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