Das dunkle Labyrinth: Roman
gepflegt?«, fragte er skeptisch.
»Ja.«
»Wieso haben Sie das gemacht? Hatte Mr. Monk nix dagegen?«
»Damals kannte ich ihn noch nicht.«
»Haben Sie keine Mama und keinen Papa, die sich um Sie kümmern?« Er runzelte die Stirn. Hester passte einfach nicht in sein Bild von einer Waisen.
»Doch, ich hatte mal Eltern. Sie waren nicht begeistert, als ich loszog. Aber ich war nicht die Einzige. Viele junge Frauen, teilweise sogar sehr vornehme, sind aufgebrochen, um Florence Nightingale zu helfen.«
»Oh. Sie waren eine davon?«
»Ja.«
»Hatten Sie Angst?«
»Manchmal. Aber wenn die Not am größten ist, denkt man nicht so viel an sich selbst, sondern vor allem an die Verwundeten und daran, wie man ihnen helfen kann.«
»Oh.« Er überlegte. »Ich brauch keine Hilfe. Wenigstens normalerweise nich’. Ich helf Mr. Monk. Er weiß ja nich’ viel über den Fluss. Nich’, dass er nich’ klug und tapfer is’ und so«, fügte er eilig hinzu, »er is’ bloß...«<
»Unwissend«, half sie ihm lächelnd.
»Genau … Aber wenn Sie das gewusst haben, warum haben Sie ihn dann gehen lassen?«
»Nun, wenn man jemanden liebt, kann man ihn nicht davon abhalten, das zu tun, was er für seine Pflicht hält.«
Er musterte sie ernst und offenbar mit wachsendem Respekt. »Is’ das der Grund, warum Sie Ihr Papa zur Armee hat gehen lassen?«
»Etwas in dieser Art.«
»Wie isses dort so?«
»Sie erzählte ihm mit nüchternen Worten, wie es bei der Fahrt über das Mittelmeer zugegangen war und was ihre ersten Eindrücke von Scutari gewesen waren. Sie beschrieb gerade das Krankenhaus, als sie merkte, dass er eingeschlafen war. Sein Atem ging regelmäßig, seine Stirn war kühl und die Haut trocken und von gesunder Farbe.
Sie legte sich auf Monks Seite des Bettes und schlief gegen ihren Vorsatz, neben Scuff zu wachen, fast auf der Stelle ein.
Als sie aufwachte, war Scuff bereits munter. Seine Miene verriet Unbehagen. Er hatte dicht neben ihr gelegen und sich möglicherweise aus Furcht, sie zu wecken, die ganze Zeit nicht zu bewegen gewagt. Doch auch jetzt, da er keine Rücksicht mehr zu nehmen brauchte, blieb er starr liegen und beäugte sie misstrauisch. Er schien darauf zu warten, dass sie etwas sagte oder vielleicht eine Forderung stellte.
Darauf verzichtete sie natürlich. Er mochte verängstigt und einsam sein, sich nach Zuneigung sehnen, aber wenn sie ihm ihre Zuwendung zu früh gab, würde er sie sofort zurückweisen. Er brauchte seine Unabhängigkeit fürs Überleben, und das wusste er.
»Geht es dir gut?«, fragte sie beiläufig und fügte überflüssigerweise hinzu: »Ich bin eingeschlafen.«
»Es tut weh«, beklagte er sich, nur um sich dessen gleich darauf zu schämen. »Aber sonst geht’s mir besser, danke. Ich kann bald heimgehen.«
Jetzt war nicht der richtige Moment, mit ihm zu streiten. Er musste das Gefühl haben, dass sein Schicksal größtenteils in seinen eigenen Händen lag. Er hatte Angst davor, seine Freiheit zu verlieren, abhängig zu werden, sich an Wärme, weiche Betten und warme Mahlzeiten zu gewöhnen und schließlich ein Zugehörigkeitsgefühl zu entwickeln.
»Ja, natürlich«, gab sie ihm Recht. »Sobald du wieder bei Kräften bist. Ich mache mir jetzt was zu essen. Möchtest du auch etwas?«
Er gab keine Antwort, unschlüssig, ob er annehmen sollte oder nicht. In seiner Welt bedeutete Essen Leben. Man gab oder nahm es nicht einfach so. Diese neue Umgebung war ihm nicht vertraut, und er war wach genug, um sich dessen bewusst zu sein.
Hester stand auf und zupfte ein paar Haarsträhnen zurecht, was ihr mehr schlecht als recht gelang. Obwohl sie den festen Vorsatz hatte, keine Gefühle für den Jungen zu entwickeln, hatte sie ihn längst ins Herz geschlossen. Wenn er das wüsste, würde er sich jedoch nur gefangen fühlen und sich dagegen wehren. Darum durfte sie sich nichts anmerken lassen. Sie ging zur Tür, ohne sich umzudrehen. Aber als sie schon die Klinke in der Hand hatte, blickte sie doch zurück. Er lag immer noch auf ihrer Seite des Betts. Sein Gesicht war weiß, und er hatte die Lippen zusammengekniffen. Die Augen waren überschattet. Er wirkte winzig. Es war Monks Meinung, an der ihm gelegen war, schoss es ihr in den Sinn, nicht ihre.
»Ich bin bald wieder da«, sagte sie und kam sich schon im selben Moment albern vor. Dann ging sie die Treppe hinunter. Eine halbe Stunde später kehrte sie mit zwei Schüsselchen Eierkuchen in Vanillesoße zurück, eine Speise, die ihr
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