Das dunkle Labyrinth: Roman
Sie wird doch alles verlieren!«
Scuff starrte sie ängstlich mit herabgezogenen Mundwinkeln an. Er mochte zwar erst acht oder neun Jahre alt sein, doch er war auf der Straße aufgewachsen und hatte alle möglichen Formen von Gewalt gesehen. »Hat sie ihn vielleicht so schlimm gehasst?«, überlegte er laut. »Das is’ doch blöd, wenn er sie nich’ gerade halbtot geschlagen hat …«<
»Sie wäre also bereit zu lügen, um ihren Mann zu belasten und Sixsmith zu befreien?«, fragte Hester voller Abscheu. »Argyll mag ja kalt sein und sie zu Tode langweilen, aber kann sie wirklich so sehr in Sixsmith verliebt sein, dass sie so weit geht – und das im Bewusstsein dessen, was er getan hat? Oh, William! Er hat ihren Vater und ihre Schwester ermordet! Hat sie vollends den Verstand verloren? Oder« – ihre Stimme wurde leise – »oder hat er sie so sehr eingeschüchtert?«
»Ich weiß es nicht«, gab Monk zu. »Ich … weiß es nicht.« Seine Gedanken überschlugen sich bei der Erinnerung an Jenny Argylls Augen im Gericht, die Kraft, die Sixsmith ausgestrahlt hatte, die Art und Weise, wie sie ihn angesehen hatte. Als verängstigt hatte er ihren Blick eigentlich nicht empfunden, eher als hungrig.
Scuff sah von einem zum anderen. »Was machen Sie jetzt?«, fragte er. »Sie lassen ihn doch nich’ davonkommen?« Er war fassungslos. Ihm wollte nicht in den Kopf, dass man so etwas überhaupt in Erwägung ziehen konnte.
»Man kann für dasselbe Verbrechen nicht zweimal vor Gericht gestellt werden«, erklärte ihm Monk bitter. »Die Geschworenen haben ihn für unschuldig erklärt.«
»Aber sie ham Unrecht!«, protestierte der Junge. »Er war’s! Er hat den Mann bezahlt, der Mr. Havilland erschossen hat! Es war nich’ Mr. Argyll! Sie können ihn deswegen nich’ baumeln lassen! Das is’ nich’ gerecht, selbst wenn er ein Gierhals und’n Trottel is’!«
»Aber Sixsmith ist nie angeklagt worden, den Mörder erschossen zu haben!«, rief Hester aufgeregt.
Sie hatte Recht. Niemand hatte im Fall des gewaltsamen Todes des Mörders eine Anklage erhoben. Man war stillschweigend davon ausgegangen, dass Argyll der Täter war, weil er ein Motiv hatte. Doch genauso gut konnte man Sixsmith beschuldigen! Rechtlich gesehen war das möglich! Ja, es war sogar notwendig! Nur dann musste man die Anklage gegen Argyll fallen lassen.
Langsam und seltsam steif erhob sich Monk. »Ich muss sofort mit Rathbone sprechen.«
Hester erhob sich ebenfalls. »Heute Nacht noch?«
»Ja. Ich kann es unmöglich aufschieben. Sei mir nicht böse.«
Sie nickte bedächtig. Er konnte ihr ansehen, dass sie ihn gerne begleitet hätte.
Auch Scuff hatte verstanden. »Mir geht’s gut!«, krähte er.
»Ich weiß«, pflichtete ihm Hester eilig bei, »aber ich habe trotzdem nicht vor, dich allein zu lassen. Versuch erst gar nicht, mit mir zu streiten.«
»Aber …«, begann er.
Sie brachte ihn mit einem strengen Blick zum Schweigen. Die Augen weit geöffnet, gab er mit bebenden Lippen nach. Halb lächelte er, halb weinte er, und doch weigerte er sich, ihr zu zeigen, wie viel ihm ihre Sorge bedeutete.
Monk betrachtete die beiden noch einen Moment lang, dann wandte er sich ab und ging.
Der Hansom setzte ihn vor Rathbones Haus ab. Vorsichtshalber bat er den Kutscher zu warten. Zwar brannten die Lichter, doch das bedeutete nicht notwendigerweise, dass der Anwalt daheim war. Wenn aber nur der Butler das Haus hütete, könnte er ihm möglicherweise sagen, wo sein Herr zu finden wäre.
Wie sich rasch herausstellte, saß Rathbone zusammen mit Margaret Ballinger zu Tisch. Mr. und Mrs. Ballinger waren auch dabei – als Anstandswächter, nachdem das Verlöbnis eine gewisse delikate Stufe erreicht hatte. Auch sie waren entzückt, an einem Essen teilzunehmem, mit dem ein Sieg gefeiert werden sollte. Welcher Natur der Triumph war, verstanden sie nicht im Geringsten, aber sie hatten mitbekommen, dass er bedeutsam war.
»Es tut mir leid«, entschuldigte sich Monk beim Butler in der Vorhalle, »aber ich muss dringend mit Sir Oliver sprechen, und zwar unter vier Augen.«
»Ich fürchte, Sir Oliver speist gerade«, entgegnete der Diener. »Die Suppe wurde soeben aufgetragen. Im Augenblick kann ich keinesfalls stören. Darf ich Ihnen vielleicht etwas im Frühstückszimmer anbieten? Vorausgesetzt, Sie möchten warten?«
»Nein danke«, lehnte Monk ab. »Bitte sagen Sie Sir Oliver, dass ich bei dem jüngsten Fall einen Umstand mit verheerenden Konsequenzen entdeckt
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