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Das dunkle Labyrinth: Roman

Das dunkle Labyrinth: Roman

Titel: Das dunkle Labyrinth: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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mit Wut konnte man immer leichter umgehen als mit Schmerz, zumindest im ersten Moment. Aber dafür war Orme zu aufrichtig. Monk mochte ihn deswegen umso lieber und ärgerte sich zugleich, weil er so zu mehr Ehrlichkeit gezwungen wurde. Zu rückhaltloser Offenheit war er aber noch nicht bereit.
    »Ich werde die Sache noch mindestens ein, zwei Tage lang verfolgen«, beschied er Orme einsilbig. »Mal sehen, ob ich rausfinden kann, was genau Havilland sich angeschaut und was er gefunden hat. Ich muss wissen, ob es real war oder nur ein Produkt seiner Angst davor, eingeschlossen zu werden.«
    Orme nickte. »Mr. Farnham wird das aber nich’ gefallen«, warnte er. »Er kommandiert gern rum und hält uns vor, dass es genügend Diebstähle gibt, um die wir uns kümmern müssen. Immer dasselbe. Die Arbeit an den neuen Kanälen und Tunneln macht die Leute eben unruhig. Und weil so viele Navvys auch in den alten Tunneln arbeiten, wird es immer schwerer, Diebesgut zu verschieben. Fat Man is’ einer von den größten Hehlern der teuren Sachen – Schmuck, Gold, Elfenbein, Seide und so. Er is’ unglücklich, wenn sich da unten so viele Leute rumtreiben.«
    »Ich weiß.«
    Orme zuckte mit den Schultern. »Ich sag’s ja bloß.«
    »Danke. Diebstahl ist wichtig, aber Mord – wenn es denn Mord ist – hat Vorrang.«
    Ein feines Lächeln spielte um Ormes Lippen. »Farnham wird nich’ zugeben, dass es Mord is’. Und die Leute, denen was geklaut wird, sind diejenigen, die den Fluss bewirtschaften. Dort is’ das Geld.«
    »Sie sind ein kluger Mann«, sagte Monk anerkennend. »Erinnern Sie mich bitte in ein, zwei Tagen noch mal daran. Bis dahin haben tote Frauen wie Mary Havilland Vorrang. Ihnen schulden wir eben auch Gerechtigkeit.«
    Monk nahm einen Hansom zur Beerdigungsstätte und holte unterwegs Superintendent Runcorn und den Butler Cardman ab. Schweigend fuhren sie zur Kirche. Sie kamen zu früh, aber es erschien ihnen angemessen, ein wenig zu warten. Sie standen auf einem schmalen, mit ausgetrocknetem Gras bewachsenen Streifen, drei Männer, vereint in Zorn und Trauer um eine Frau, die einer ihr Leben lang, einer nur in ihren letzten zwei Monaten und der dritte überhaupt nicht gekannt hatte.
    Steif verharrten sie in dem eisigen Wind, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, ohne einen Blick für den Verkehr oder das Armenhaus, das schwarz in den bleiernen Himmel aufragte.
    Die Totengräber hatten ihre Pflicht bereits erfüllt – in der Erde klaffte ein Loch. Nun nahte der kleine Leichenzug, angeführt von dem Pfarrer, dessen strenge Miene an das Jüngste Gericht und ewige Verdammnis gemahnte. Ihm folgte Jenny Argyll, von oben bis unten in Schwarz gehüllt und so dicht verschleiert, dass ihr Gesicht nicht zu erkennen war. Monk wusste nur deshalb, dass sie es war, weil außer ihr niemand an Alan Argylls Seite gehen konnte. Freilich achtete sie genauso wenig auf ihn wie er auf sie. Beide wirkten so isoliert, als wären sie allein gekommen.
    Dachte Argyll an seinen toten Bruder? Sein bitterer Gesichtsausdruck legte das nahe.
    Es gab keinen Gottesdienst, kein Wort über Hoffnung auf Wiederauferstehung. Etwas Erbarmungsloses lag über dieser Bestattung. Der Wind peitschte die Frackschöße der Trauernden, jagte eisigen Graupel gegen ihre ungeschützten Wangen und färbte sie rot, bis sie einen auffälligen Kontrast zu den weißen Lippen und hohlen Augen bildeten.
    Monk sah einmal kurz zu Runcorn und Cardman hinüber, wollte sie aber nicht weiter in ihren Gefühlen stören. Vielleicht war es die Mahnung an ihre Vergänglichkeit, vielleicht dieses Absondern von den Menschen, ja, die Verweigerung jeder Menschlichkeit sogar über den Tod hinaus, jedenfalls standen beide Männer regungslos da, gezeichnet von ihrer Trauer.
    Monk betrachtete den Pfarrer und überlegte, an was für eine Art von Gott er glauben mochte, ob er sich aus Überzeugung so verhielt oder ob er es nur unter Protest tat, weil er Frau und Kinder zu ernähren hatte. Er selbst konnte seinem Schicksal gar nicht genug danken, dass er mit seinem eigenen Glauben keine Geisel finanzieller Not war. Eigentlich hätte ihm der Geistliche leid tun müssen, doch andererseits waren in seinem Gesicht keine Fragen, nicht der geringste Zweifel zu erkennen. Das Einzige, was Monk bei ihm spürte, war Zorn.
    Die Beerdigung war vorüber, bevor Monk sich dessen bewusst wurde. Wortlos löste sich der Trauerzug auf. Schweigend entfernten sich auch Runcorn, Cardman und Monk, allerdings in

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