Das dunkle Labyrinth: Roman
nicht so sicher, ob die Anforderungen, die an den Leiter einer Wache gestellt wurden, wirklich seinem Wesen entsprachen, ja, ob sie ihn nicht sogar überforderten. Sie suchte noch nach den richtigen Worten für eine vorsichtige Frage, als er sein Schweigen brach.
»Sixsmith, der die Tunnelarbeiten beaufsichtigt, ist sich sicher, dass Havilland Selbstmord begangen hat, weil er dem Druck der Arbeit unter der Erde nicht mehr gewachsen war«, begann er, die Augen auf ihr Gesicht gerichtet.
Sie merkte, dass sie sich verspannte und schon zum Widerspruch ansetzte, zügelte sich aber und wartete ab, was er noch zu sagen hatte.
Ein fast unmerkliches Lächeln spielte um seine Mundwinkel, das ihn ein bisschen weniger müde erscheinen ließ. »Danach war ich noch einmal im Haus der Havillands und habe mit der Köchin und einem der Dienstmädchen gesprochen«, fuhr er fort. »Sie haben gesagt, Havilland hätte am Abend vor seinem Tod eine Nachricht erhalten, die an der Hintertür abgegeben wurde. Nachdem er sie gelesen hatte, verbrannte er sie und sagte dem Butler, er könne zu Bett gehen; er würde später selbst zusperren.«
»Er wollte jemanden im Stall treffen!«, rief Hester sofort. Sie richtete sich kerzengerade auf und starrte Monk an. »Wen?«
»Sie hatten keine Ahnung«, meinte Monk betrübt. »Auf dem Umschlag stand lediglich sein Name. Die Köchin bekam ihn nur flüchtig zu Gesicht, und das Dienstmädchen, das ihn ihr brachte, kann nicht lesen.«
»Und?«, fragte sie begierig. »Wer könnte es gewesen sein?« Endlich gab es eine handfeste Spur. Schon spürte Hester Hoffnung in sich aufflammen, was eigentlich absurd war, wie sie sich sogleich selbst vorhielt. Dieser Fall sollte sie nicht so tief berühren. Sie hatte Mary Havilland nicht persönlich gekannt, und wären sie sich begegnet, wäre sie ihr vielleicht unsympathisch gewesen. Im Grunde erinnerte Mary sie nur an ihren eigenen Kummer, an das benommene Gefühl, als hätte sie einen Schlag ins Gesicht bekommen, als sie allein im Hafen von Scutari gestanden hatte, mit diesem schrecklichen Brief ihres Bruders in der Hand, aus dem sie erstmals vom Selbstmord ihres Vaters erfuhr und wenige Zeilen später vom Tod ihrer Mutter an einem, wie es hieß, »gebrochenen Herzen«. Mary Havilland musste denselben quälenden Schmerz erlitten haben.
Der Unterschied war nur, dass Hester die Nachricht vom Selbstmord geglaubt hatte, Mary dagegen nicht. Hatte sie sich getäuscht und es sich und ihrer Schwester mit ihrer Weigerung, das Unvermeidliche zu akzeptieren, nur noch schwerer gemacht? »Wer könnte das sein?«, wiederholte Hester jetzt.
Monk beobachtete sie mit zärtlichem Blick, denn er wusste um ihren Schmerz. »Ich habe keine Ahnung. Aber da er sich sofort nach Erhalt des Briefes auf ein Treffen mit dieser Person vorbereitete, muss er sie entweder gekannt oder von ihr zumindest so viel gewusst haben, dass es ihn nicht verblüffte, von ihr zu hören. Auch war eine Antwort anscheinend gar nicht nötig. Wer immer ihm geschrieben hatte, wusste, dass er zu dem Treffen kommen würde.«
»Du musst es herausfinden«, sagte Hester, ohne zu zögern.
Diese Forderung war unvernünftig, wie ihr selbst klar war, doch Monk widersprach nicht. Verzichtete er ihr zuliebe auf Kritik? Oder wurde auch er immer noch von schwelendem Zorn angetrieben, wenn Menschen starben und er seine Grenzen zu spüren bekam? Oder – schlimmer noch – litt er unter dem Anspruch, in seiner neuen Aufgabe Vollkommenes leisten zu müssen, um seiner eigenen Vorstellung von dem, was Durham geleistet hätte, gerecht zu werden?
»William …«, begann sie.
»Ich weiß.« Er lächelte.
»Wirklich?«, fragte sie zweifelnd.
Ein amüsiertes Funkeln trat in seine Augen. »Ja.«
Gegen Monks Wunsch brach Hester am nächsten Morgen erneut auf, um mehr über Mary Havilland herauszufinden. Au ßerdem hoffte sie, das Versprechen, das sie Sutton gegeben hatte, halten und wichtige Leute auf die Zustände im Untergrund aufmerksam machen zu können.
Als Erstes schaute sie aber in der Klinik in der Portpool Lane vorbei, um die Bilanz zu vervollständigen. »So, alles komplett und auf dem neuesten Stand«, seufzte sie, als sie Margaret das Hauptbuch überreichte. Plötzlich fiel es ihr schwer, ihre Emotionen zu verbergen. Sie würde das alles hier vermissen, die Arbeit, die Auseinandersetzungen, die Siege und vor allem die Menschen. Das Gefühl von Verlust war noch viel überwältigender, als sie erwartet
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