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Das dunkle Lied des Todes

Das dunkle Lied des Todes

Titel: Das dunkle Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bjarne Reuter
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denken. Sie hatte ihn schon einmal erwähnt und dieselbe Reaktion erhalten. Wenn sie den Spruch erwähnte, hatte sie die anderen im Griff. Denen passte es nicht, dass sie den Spruch kannte. Der ging sie nichts an. Franz hatte das offen ausgesprochen. »Der geht dich nichts an, Bergman.« Sie hatte den Spruch das erste Mal vor einem Jahr gehört, als sie am Grab von Frau Wagner standen. Willy Kelberg war mit drei der älteren Lehrer zugegen gewesen. Der Schulleiter hatte einige Worte gesprochen, aber danach hatten die Lehrer das Grab verlassen, damit Frau Wagners Musterklasse einen Moment für sich hätte. Eva hatte hinter einer Hecke auf sie gewartet, um dann mit Betty nach Hause zu gehen. Und dabei hatte sie ihn gehört: den Spruch. Sie hatte Betty gefragt, worum es dabei gehe, und Betty hatte geantwortet, es sei einfach ein Spruch, den sie von Frau Wagner gelernt hatten. Aber Eva hatte gespürt, dass das nicht alles war.
     
    »Sagst du mir, was ihr sagt, Betty?«
    »Wie meinst du das?«
    »Sag mir den Spruch.«
    »Aber der gehört doch   … uns.«
    »Ach, ist er geheim?«
    »Nein, geheim ist er nicht. Aber er gehört eben uns.«
    »Das hat sich angehört wie Latein?«
    »Das kann schon sein.«
    »Aber ist es Latein?«
    »Ja, ich glaube schon.«
    »Was bedeutet er?«
    »Das weiß ich nicht, Eva. Können wir nicht über etwas anderes reden?«
     
    Sie sah zuerst Franz an, dann Anders.
    »Ich weiß doch, dass ihr bisweilen einen Spruch aufsagt. Aber seid ihr vielleicht stumm geworden?«
    Anders seufzte.
    »Frau Wagner hat uns einen Spruch beigebracht, als wir klein waren. Sie hat uns auch eine Menge Choräle beigebracht. Sie hat gesagt, das würde unseren Sinn für Rhythmus und Sprache verbessern. ›Hielten die Könige einen Rat   …‹«
    Franz fiel ein: »›Sie könnten mit allen Gesetzen, sie könnten mit ihrer ganzen Macht kein Blatt   …‹«
    JB schrie: »…   auf eine Nessel pissen!«
    Die Worte hallten in dem hohen Kirchenschiff wider. Sie sollten sicher ein Witz sein, aber niemand lachte.
    Eva trat vor Anders hin.
    »Wie lautet er?«
    »Ich kann mich kaum erinnern.«
    »Du hast ihn vergessen? Was ist mit dir, Thomas? Hast du ihn auch vergessen? Und Julius? Hat es Herrn Blumendorph ausnahmsweise mal die Sprache verschlagen?«
    »Kapierst du nicht, dass er dich nichts angeht?«
    Franz’ Lippen waren jetzt weiß. Das war ein schlechtes Zeichen. Es war auch ein schlechtes Zeichen, dass er und Anders einer Meinung waren. Bromsen schlug vor, nach draußen zu gehen.
    »Das hier ist ein Dom«, sagte er. »Und in einem Dom   …«
    »Wir gehen nirgendwohin.« Eva ließ ihre Blicke im Kreis wandern. »Erst, wenn ich das sage. Nicht, ehe irgendwer mir verrät, was ihr an Frau Wagners Grab sagt.«
    »Aber das ist doch unsere Sache.« Sagte Johan, der nie etwas sagte, solange er nicht gefragt wurde.
    »Eure Sache?«
    »Ja, unsere Sache.« Tineke warf den Kopf in den Nacken und setzte sich neben Vibe.
    Eva sah Anders an.
    »Hast du ihn wirklich vergessen, Anders?«
    »Natürlich habe ich ihn nicht vergessen. Aber der ist doch nicht wichtig.«
    »Wenn er nicht wichtig ist, warum sagst du ihn dann nicht? Wenn er nicht wichtig ist, warum reagiert ihr dann so?«
    Anders zuckte mit den Schultern. Seine übliche Arroganz hatte einen Hauch von Abscheu angenommen.
    Eva sah, wie sie zusammenrückten. Nicht physisch,sondern mental. Gegen sie. Eine nie zuvor gesehene Allianz, bestehend aus Anders, Franz, Thomas, den Zwillingen und Julius Blumendorph.
    Hatten sie endlich etwas gefunden, gegen das sie sich zusammen verbünden konnten?
    Und war sie das?
    Oder das, was sie aus Unachtsamkeit herausgefordert hatte?
    Eva spürte, dass sie den letzten Schritt machen musste, um nicht ihr Gesicht zu verlieren.
    Sie trat vor Anders hin.
    »Jetzt, Anders, sofort. Sag ihn!«
    Er starrte einen Punkt über ihrem Kopf an und räusperte sich.
    »Caelum non animum mutant qui trans mare currunt. Das sagen wir. Soll ich es wiederholen?«
    »Das ist nicht nötig.«
    Aber sie taten es, und zwar als lauter, kläffender Chor, der noch vor der Kirche zu hören war.
    »Caelum non animum mutant qui trans mare currunt.«
    Vorn beim Eingang tauchte ein alter Küster auf. Er schüttelte den Kopf.
    Eva schielte zu Bromsen hinüber und der sah weg, wie aus schlechtem Gewissen.
    Es wurde still in der Kirche. Aus Vibes Mund kam eine hellrote Kaugummiblase, die knallend zerplatzte.
    Julius Blumendorph hatte ihr den Rücken zugekehrt, aber Eva konnte sein

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