Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das dunkle Paradies

Das dunkle Paradies

Titel: Das dunkle Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
Vom Netzwerk:
Ähnlichkeit mit mir, Viola. Mehr als mir lieb ist.« Sie steht auf und wendet sich zum Gehen. »Denk daran, ich gebe dir nicht die Schuld. Was auch immer geschieht.«
    »Was wollt Ihr damit sagen: ›Was auch immer geschieht‹?«
    Aber sie bleibt mir die Antwort schuldig.
    In dieser Nacht halten sie so etwas wie eine Totenwache ab, die Frauen im Haus der Heilung trinken dabei viel schales Bier, singen Maddys Lieblingslieder und erzählen Geschichten von ihr. Tränen fließen, auch bei mir, es sind keine Freudentränen, aber sie könnten noch reichlicher fließen.
    Morgen werde ich Todd wiedersehen.
    Es gibt nichts, was mich jetzt mehr beschäftigt als dieses Wiedersehen.
    Ich wandere durch das Haus, gehe zwischen den Heilerinnen, Gehilfinnen und Patientinnen umher, die sich miteinander unterhalten. Aber keine will mit mir reden. Ich sehe Corinne, sie sitzt allein auf einem Stuhl am Fenster und scheint besonders aufgewühlt zu sein. Seit Maddy tot ist, hat sie mit niemandem mehr gesprochen, nicht einmal am Grab wollte sie etwas sagen. Wenn man direkt neben ihr sitzt, sieht man die Tränenspuren auf ihren Wangen.
    Wahrscheinlich tut das Bier bei mir schon seine Wirkung, aber Corinne macht einen so verstörten Eindruck, dass ich zu ihr gehe und mich neben sie setze.
    »Es tut mir leid …«, fange ich an, aber ehe ich den Satz zu Ende bringen kann, steht sie auf und geht weg.
    Mistress Coyle kommt zu mir herüber, sie trägt zwei Gläser Bier. Eines davon reicht sie mir. Wir blicken Corinne nach, die das Zimmer verlässt. »Ärgere dich nicht zu sehr über sie«, sagt Mistress Coyle und setzt sich.
    »Sie hat mich nie leiden können.«
    »Das stimmt nicht. Sie hat nur eine schwere Zeit zu überstehen, das ist alles.«
    »Schwer? Was soll das heißen?«
    »Es ist ihre Sache, dir das zu erzählen, nicht meine. Trink aus.«
    Ich trinke einen Schluck. Das Bier schmeckt süß und nach Weizen, die Bläschen kitzeln meinen Gaumen, aber es ist nicht unangenehm. Wir sitzen einfach da, ein, zwei Minuten lang, und trinken.
    »Hast du je einen Ozean gesehen, Viola?«, fragt mich Mistress Coyle.
    Von dem Bier muss ich husten. »Einen Ozean?«
    »In New World gibt es Ozeane«, sagt sie. »Du kannst dir kaum vorstellen, wie groß sie sind.«
    »Ich bin auf einem Siedlerschiff zur Welt gekommen«, sage ich, »aber ich habe die Ozeane von der Umlaufbahn aus gesehen, damals im Erkundungsschiff.«
    »Also hast du noch nie am Strand gestanden und zugesehen, wie sich die Wellen donnernd an der Küste brechen und sich das Wasser vor dir bis hinter den Horizont erstreckt. Also hast du noch nie gesehen, wie das Meer sich bewegt, wie blau es ist, wie lebendig. Und du weißt nicht, dass es noch viel größer erscheint als das schwarze Nichts über uns, denn der Ozean gibt nicht preis, was er verbirgt.« Sie schüttelt fröhlich den Kopf. »Wenn du jemals begreifen willst, welch kleines Rädchen du in Gottes Räderwerk bist, dann stell dich ans Ufer des Ozeans.«
    »Ich stand bisher nur am Ufer eines Flusses.«
    Sie schiebt die Unterlippe vor und schaut mich an. »Dieser Fluss fließt in den Ozean. Er ist gar nicht so weit weg. Zwei Tagesritte, höchstens. Die Fahrt dauert nicht länger als einen Morgen im Atomauto, obwohl die Straße nicht gerade in tadellosem Zustand ist.«
    »Es gibt eine Straße, die zum Ozean führt?«
    »Von der ist nicht mehr viel übrig.«
    »Und ist dort etwas, am Ozean?«
    »Dort war einmal meine Heimat«, sagt sie und rutscht auf ihrem Stuhl hin und her. »Als wir damals hier landeten. Das ist dreiundzwanzig Jahre her. Wir wollten ein Fischerdorf bauen, mit Booten und so weiter. Vielleicht hätte es in hundert Jahren sogar einen Hafen dort gegeben.«
    »Und was ist dann passiert?«
    »Was überall auf diesem Planeten passiert ist: All unsere großartigen Pläne sind an den Hindernissen zerschellt, die sich in den ersten Jahren aufgetan haben. Es war viel schwerer, eine neue Zivilisation zu errichten, als wir es uns vorgestellt hatten. Ehe man aufrecht gehen kann, muss man auf allen vieren kriechen.« Sie nimmt einen Schluck aus ihrem Bierglas. »Und manchmal bleibt man auf allen vieren.« Sie lächelt vor sich hin. »Aber es war wahrscheinlich am besten so. Es hat sich nämlich gezeigt, dass die Ozeane von New World ohnehin nicht zum Fischen taugen.«
    »Warum nicht?«
    »Ach, die Fische sind so groß wie ein Boot. Sie tauchen an die Oberfläche, schauen dir in die Augen und sagen dir, dass sie dich gleich

Weitere Kostenlose Bücher