Das dunkle Volk: Eishauch: Roman (Knaur TB) (German Edition)
Zuhältern und Gangs ein Schnippchen zu schlagen.
Würde ich meine Mutter verlassen, dann würde sie umkommen. Sie war nicht gemacht für das Leben, in das sie hineingerutscht war. Ich war das Einzige, was zwischen ihr und dem Tod stand.
Innerlich hin- und hergerissen wandte ich mich langsam Grieve zu. Ich wollte ja sagen. Ich wollte bleiben und mein eigenes Leben leben. Ich wollte nach einer langen Zeit der Kälte an den warmen Herd kommen. Aber … meine Mutter war eben meine Mutter. Und sie würde niemals freiwillig nach New Forest zurückkommen. Sie würde mich ziehen lassen und dann einsam in irgendeiner schmutzigen Gasse sterben. Wie oft hatte sie es mir schon gesagt? »Ohne dich wäre ich längst tot, Cicely. Du darfst mich nicht allein lassen. Allein schaffe ich es nicht. Ich brauche dich.«
»Ich … ich kann nicht. Noch nicht.«
Er starrte mich an, und Schmerz blitzte in seinen Augen auf. »Cicely. Ich brauche dich. Du musst bei mir bleiben. Wir sind nur zusammen eins. Du bist meine Seelenverwandte. Meine einzige Liebe.«
Langsam erhob ich mich. »Meine Mutter braucht mich.«
»Du würdest deine Mutter mir vorziehen? Sie, die nichts für dich tut, die dein Leben zur Hölle gemacht hat? Du würdest sie mir vorziehen?« Er sprang auf. Seine Wangen glühten zornig, seine Stimme klang verbittert. »Spielst du mit mir? Ich warte das ganze Jahr nur auf den Sommer, nur darauf, dass du nach Hause kommst. In den vergangenen zwei Jahren hast du mich in dem Glauben gelassen, dass wir eine Zukunft haben.«
Seine Liebe überwältigte mich, und obwohl es sich so richtig anfühlte, machte es mir Angst, wie finster der Ausdruck seiner Augen geworden war. »Grieve. Ich bin doch noch so jung.«
»Du bist eine Magiegeborene, keine Yummanii. Du bist älter als deine tatsächlichen Jahre. Cicely – ich habe mein ganzes Leben auf dich gewartet! Ich habe eine Lebensspanne und länger darauf gewartet, dass du endlich zu mir zurückfindest, und nun, wo du es getan hast, schickst du mich weg?«
Langsam wich ich zurück. »Es ist doch nicht für lange. Nur bis meine Mutter ein wenig zur Ruhe kommt …«
»Und wann soll das sein? Seit elf Jahren zieht ihr durch die Gegend. Gibt es irgendwelche Anzeichen, dass sie sesshaft wird? Dass sie sich selbst in der Welt zurechtfindet? Sie wird dich bis in alle Ewigkeit als Krücke benutzen, wenn du sie lässt.«
Ich schnappte empört nach Luft und fuchtelte mit den Armen, um ihm klarzumachen, was für einen Unsinn er von sich gab. Aber noch bevor die Worte »Du redest über meine Mutter! « heraus waren, wusste ich bereits, dass er recht hatte.
»Ich kann dir nicht versprechen, wann, aber ich werde zu dir zurückkommen«, flüsterte ich lautlos im Windschatten, aber er hörte mich laut und deutlich.
»Ich muss jetzt wissen, dass ich nicht nur auf ein leichtfertig ausgesprochenes Versprechen warte. Eine Hoffnung hege, die sich niemals erfüllen wird. Lieber verlasse ich den Goldenen Wald, anstatt hier zu bleiben und zu wissen, dass du niemals bei mir sein wirst.« Er war wütend und so gekränkt, dass es mir in der Seele weh tat.
Ich wandte mich kopfschüttelnd um und wünschte mir nichts sehnlicher, als meine Mutter vergessen zu können, meine Mutter und die Straße. Mein tätowierter Wolf knurrte, und unwillkürlich strich ich mit der Hand darüber, um ihn zu beruhigen. Grieve hielt den Atem an.
Doch schließlich schüttelte ich wieder den Kopf. »Ich verspreche dir, dass ich zurückkomme. Aber ich weiß nicht, wann. Ich muss mich um meine Mutter kümmern. Ich bin alles, was sie hat.«
»Dann geh. Geh zu ihr, und zwar jetzt. Lass mich mit meinem Schmerz allein.« Er warf die Blumen, die er mir gepflückt hatte, zu Boden. »Geh. Verschwinde einfach!«
»Grieve …« Meine Stimme verklang, als er kehrtmachte und mit hängendem Kopf davonging, ohne noch einmal zurückzublicken.
Und als ein Schatten über den Wald zog, wandte auch ich mich um und rannte davon.
Ich hätte zurückgehen und mit ihm reden müssen, aber ich war jung und hatte Angst, jemand anderem zu vertrauen. Denn in der kurzen Zeit, die ich auf diesem Planeten lebte, hatte ich bereits erfahren müssen, wie gefährlich das war. Und obwohl Grieve mir sein Herz darbot und ich bei ihm sein wollte, wusste ich doch, dass der Zeitpunkt noch nicht gekommen war.
Geh, aber vergiss niemals. Vergiss ihn nie, Cicely. Wenn die Zeit reif dafür ist, wirst du zurückkommen, und deine Liebe für ihn wird sich voll
Weitere Kostenlose Bücher