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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Abgrund.
    Entsetzte Rufe hallten von den Felswänden wider. Einen furchtbaren Augenblick lang kämpfte Jonas um sein Gleichgewicht. Seine Augen waren auf den bodenlos scheinenden Abgrund gerichtet. Dann hatte er seinen festen Stand zurückerlangt.
    Er atmete schwer. Seine Beine hatten sich nun endgültig in Blei verwandelt. Erst als er Darinas Stimme wahrnahm, gelang es ihm, seinen Weg fortzusetzen.
    »Jonas, komm!«, rief sie immer wieder. »Du schaffst es. Ich weiß, dass du es schaffst. Vertrau mir.«
    Er vertraute ihr. Und Darina sollte Recht behalten.
    Kaum hatte Jonas die Brücke verlassen, wurde Sam Chalk von Ximon auf den unsicheren Pfad geschoben. Der Pilot war eindeutig der Größte und Schwerste in der Gruppe. Breitbeinig wie ein Seemann auf einem schwankenden Schiff tastete er sich auf die Brücke hinaus. Sein Gesicht war kreidebleich, die Stirn glänzte vom Schweiß und in seinen starren Augen konnte jeder lesen, was er von diesem Balanceakt hielt. Einmal stöhnte Goldan laut auf, als ein dreieckiges Stück aus der Brücke brach. Der ganze steinerne Bogen rutschte an der Mittelsäule zwei Handbreit nach unten, blieb dann aber zum Glück dort hängen. Als Sam das Gleichgewicht wiedergewonnen hatte, beschwerte er sich lautstark: »Warum habt ihr mir nicht einen morschen Doppeldecker unter den Hintern geschnallt? Das wäre allemal besser als das hier!« Doch schließlich erreichte auch er wohlbehalten den festen Grund.
    Es folgten die zwei Flüsterer und Mangaar. Immer mehr Steine lösten sich aus der Brücke, während sie das Bauwerk überquerten.
    »Jetzt du«, rief Bergalf zu Goldan hinüber.
    »Nein!« Die erschöpfte Stimme des Wächters hallte mehrmals zwischen den Felswänden hin und her. »Ihr braucht die Tiere. Sie bedeuten Zeit für euch. Und Zeit ist das, was wir am wenigsten haben.«
    »Er hat Recht«, murmelte Darina, während sie besorgt zu Goldan hinüberblickte.
    Bergalf spürte, dass der Wächter sich von seinem Vorhaben nicht würde abbringen lassen. Hastig wandte er sich an Jonas.
    »Ruf die Tiere herüber, Jonas. Eines nach dem anderen. Und wenn es dir möglich ist, dann sag ihnen, dass sie schnell, aber vorsichtig über die Brücke gehen sollen.«
    Jonas riss sich von dem bohrenden Blick des Fährtensuchers los und sah zu den Tieren hinüber. Von seinem jetzigen Standpunkt aus schienen sie, ebenso wie Goldan, am unteren Ende einer riesigen Felsnadel zu kleben, die einem Eiszapfen gleich von einer unsichtbaren Decke hing. Er ignorierte das Schwindelgefühl, das ihn bei diesem Anblick befiel, und rief Trojans Namen. Das Schelpin spitzte die Ohren.
    »Schick deine Freunde rüber!«
    Erstaunlicherweise schien das kraftvolle Schelpin ihn verstanden zu haben. Es stieß einige der tiefen Laute aus, mit denen sich die Schaf-Wolf-Ziegen meistens verständigten: »Ook, ook, oook.« Und schon kam Bewegung in den wollenen Haufen.
    Jonas redete behutsam auf die Tiere ein, während eines nach dem anderen den wackeligen Übergang betrat. Immer mehr Steine lösten sich und flogen davon, mal nach unten, mal nach oben – je nachdem, wo sich das Tier gerade auf der Brückenschraube befand. Zuletzt flog Darinas weißer Hirsch herüber, mit so federleichten Schritten, als könne ihn weder die seltsame Form noch der desolate Zustand des Bauwerks schrecken.
    »Jetzt du!«, schrie Bergalf zu Goldan hinüber.
    Der Wächter stand mit geschlossenen Augen vor der Brücke. Sein Brustkorb hob und senkte sich in schnellem Rhythmus. Schweiß rann ihm über das Gesicht. Nur mühsam konnte er sich aus den Fesseln seiner tiefen Konzentration befreien. Unsicher blickte er auf den von vielen Rissen durchzogenen steinernen Pfad.
    »Mach kurze, schnelle Schritte«, rief Bergalf noch einmal. »Du schaffst es!«
    Goldan setzte vorsichtig den rechten Fuß auf die Brücke. Nichts geschah. Ein Anflug von Erleichterung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Er blickte zu den Gefährten auf der anderen Seite, lächelte und rief: »Falls ich es nicht schaffe, dann richtet Rinka und Tomika aus, dass ich sie sehr liebe.«
    Sein Blick kehrte zu dem Steinsteg vor seinen Füßen zurück. In dem Moment, als Goldan das linke Bein nachzog, brach die Brücke zusammen.
    Ein vielstimmiger Schrei gellte durch die Schlucht und vermischte sich mit dem Krachen des einstürzenden Bauwerks. Der steinerne Pfad sackte unmittelbar vor den Füßen der Gefährten in die Tiefe, wohingegen die Trümmer bei der Felsnadel scheinbar gen Himmel strebten. Staub

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