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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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hatte die Treppe erreicht. Jonas’ Augen wanderten wieder zu dem leblosen kleinen Körper hin. Einem plötzlichen Impuls nachgebend, stieg er noch einmal zwei Stufen empor, beugte sich zu dem Federknäuel hinüber und hob es auf. Dann rannte er, so schnell er konnte, die Treppe hinunter.
    Jonas ließ sich von Kanthelms wütendem Geschrei nicht beirren. Wie der Wind schoss er durch die verschiedenen Stockwerke hinab – der angeschlagene Malkit konnte ihm nur stolpernd folgen. Als er aus dem Turm ins Freie sprang, fand er Trojan so vor, wie er ihn verlassen hatte. Das heißt, nicht ganz.
    »Kraark! Du lebst?«
    »Was denkst du denn? Dank des ungehobelten Kerls kann ich mich zwar auf ein paar Tage Kopfschmerzen einstellen, aber sonst geht es mir prächtig.«
    Der Rabe saß auf Trojans Rücken, was das Schelpin inzwischen mit der gleichen Gelassenheit hinnahm wie eine Panzerechse ihre gefiederten Krokodilwächter. Behände schwang sich Jonas in den Sattel und lenkte sein Reittier zum Ausgang hin.
    Als sie das erste Burgtor nahmen, sagte er: »Ich dachte, du wärst auch in den Abgrund gestürzt!«
    »Ich bin nur auf einem etwas bockigen Wind geritten. Aber das war halb so schlimm. Schließlich gelten wir Raben bei den Chinesen als Vorboten des Sturms. Ein paar Turbulenzen bringen mich doch nicht um.«
    »Das beruhigt mich ungemein!« Auch das zweite Burgtor flog an dem Schelpin und seinen beiden Reitern vorbei. Jonas erinnerte sich an Darinas Bedenken. »Ich bin so froh, dass gerade du mich gerettet hast, Kraark.«
    »Wieso? Hast du etwa geglaubt, ich lasse dich im Stich?«
    Ein paar Galoppsprünge lang schwieg Jonas. Dann lächelte er befreit. »Nein, eigentlich habe ich das nie geglaubt.«
    Als Trojan den Pfad erreichte, der ins Tal hinabführte, war von Kanthelms Wut- und Schmerzensschreien nichts mehr zu hören. Der Herrscher der Malkits hatte sich wohl endgültig mit seiner Niederlage abgefunden und leckte nun seine Wunden.
    »Wer ist der kleine Kerl da in deiner Hand?«, fragte Kraark unvermittelt.
    Erst jetzt fiel Jonas wieder der winzige Papagei ein, den er aus dem Turmgemach mitgenommen hatte. Ein Gefühl tiefen Mitleids überflutete ihn. »Er hat mir das Leben gerettet, noch bevor du gekommen bist.«
    »Schon seltsam, dass sich so viele Tiere für dich einsetzen.«
    »Du meinst, zwei.«
    »Ich habe mit Talinka gesprochen. Sie erzählte mir, dass du hier oben vielleicht Hilfe brauchst.«
    »Schade, dass sie für den Kleinen hier zu spät gekommen ist.« Zärtlich streichelte Jonas dem leblosen Papagei über den rot gefiederten Bauch. Eine einzelne Träne löste sich aus seinem Augenwinkel und tropfte direkt auf den Schnabel des Vogels.
    Plötzlich bewegte sich das Federknäuel.
    Der Piepmatz schüttelte den Kopf, drehte sich auf die winzigen Füßchen herum und brachte in aller Gemütsruhe sein Gefieder in Ordnung, als hätte er gerade ein Vogelbad genommen. Bald war er mit seiner Arbeit fertig und beäugte Jonas neugierig.
    »Ich hätte nie gedacht, dass wir uns je wieder sehen«, sagte der Junge und wischte sich ein paar Tränen von den Wangen.
    Das Blaukrönchen stieß einige Piepser aus und legte den Kopf schief.
    »Er versteht dich«, meinte Kraark leise.
    Jonas sah den Raben verwundert an. »Du meinst, der Kleine kann auch sprechen?«
    »Na ja, vielleicht ist seine Art der Konversation noch nicht so kultiviert wie die meine, aber ich würde sagen, dich versteht sogar ein Regenwurm.«
    »Danke. Das klingt ja sehr nett.«
    »Es war durchaus als Kompliment gemeint, Jonas. Du musst schon immer ein besonderes Verständnis für die Tiere gehabt haben, aber der blaue Kristall hat dich mit einer Gabe beschenkt, die weit darüber hinausgeht.«
    Der grün-rot-blau-orange-gelbe Federzwerg in Jonas’ Hand schlug unversehens mit den Flügeln, als wolle er das Gespräch der beiden Älteren unterbrechen und deren Aufmerksamkeit wieder ganz für sich gewinnen. Als er das erreicht hatte, zwitscherte er eine fröhliche, aus sieben Tönen bestehende Melodie und erhob sich in die Luft. Während der Papagei noch eine letzte Runde um Jonas’ Kopf drehte, glaubte dieser undeutlich ein »Dankeschön« zu hören. Dann war sein Lebensretter wie ein knallbunter Blitz davongeschossen.

 
    DIE ZWEI WEISEN
     
     
     
    Minuq benahm sich wie ein übermütiger Welpe. Der große Leitwolf hatte seinen schwarz gefiederten Spielkameraden während all der vergangenen Jahre nicht vergessen. Als Kraark zuerst auf die Wölfe gestoßen war,

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