Das Echo der Flüsterer
hatte es keine Zeit für eine ausführliche Begrüßung gegeben, doch nun holten die beiden alten Freunde das gründlich nach.
Kraark tat so, als wollte er Minuq in den Schwanz zwicken, und sobald das gewaltige Gebiss des Wolfes spielerisch nach ihm schnappte, hüpfte der Rabe schnell zur Seite. Mal führten die beiden einen wilden Tanz auf, bei dem jeder unbedarfte Zuschauer geglaubt hätte, es ginge um Leben und Tod. Mal hockte sich Kraark auf Minuqs Schultern und knabberte liebevoll an dessen Ohren.
»Ich hätte nie gedacht, dass Raben und Wölfe sich so gut verstehen«, sagte Jonas zu Talinka, während er dem ausgelassenen Treiben der beiden zusah.
»Dort, wo ich herkomme, spielen die Raben den Wölfen öfter Streiche. Leider muss ich eingestehen, dass einige von ihnen sogar schlauer sind als unsereins.«
»Kraark hat in deinem Herzen einen besonderen Platz, stimmt’s?«
Talinka blickte Jonas aus ihren gelben Augen eine Weile lang schweigend an. »Du bist wirklich ein seltsames Menschenkind, Jonas McKenelley. Anscheinend verstehst du besser, was in uns Tieren vorgeht, als wir selbst es manchmal können.«
Jonas lächelte verlegen. »Wir Menschen tun uns häufig genauso schwer unsere Gefühle offen zu zeigen. Das geht nicht nur Wölfen so.«
Einige Zeit später entsann sich Minuq seiner Rolle, die er als Leitwolf zu spielen hatte, und kam locker auf Jonas zugetrabt. Kraark landete wieder auf der Schulter seines Menschenfreundes.
»Wir sollten allmählich aufbrechen«, sagte der Rabe.
»Hat sich Kanthelm noch einmal blicken lassen?«, fragte Jonas.
Talinka sah zur Klippe hinauf. »Wir haben den Berg umstellt. Bisher ist niemand heruntergestiegen. Wahrscheinlich war dieser Kanthelm schon da oben, bevor wir Keldins Klippe überhaupt aus der Ferne zu Gesicht bekommen haben.«
Ein dunkler Schatten senkte sich über Jonas’ Seele.
»Was ist mir dir, Freund?« Minuq war die Veränderung an dem Jungen nicht entgangen.
»Eigentlich sollte ich froh sein, dass nicht Darina, sondern ich mit diesem Scheusal zusammengestoßen bin. Aber die Sache mit Keldins Spiegel…«
»Du denkst, du hättest ihn retten können!«
Jonas blickte zu Boden und nickte.
»Dann lass dir gesagt sein, dass du das Richtige getan hast. Kraark erzählte mir, mit welchem Mut du gegen Kanthelm gekämpft hast. Er ist ein kaltblütiger Mörder, Jonas! Er hat nicht nur das Leben unserer Gefährten, sondern auch das vieler Menschen auf dem Gewissen. Der Spiegel durfte nicht in seine Hände fallen. Du und Kraark, ihr beide habt das verhindert.«
»Aber Darina sagte doch, dass Kanthelm selbst einen von Keldins Spiegeln besitzt. Also wollte er nur verhindern, dass die Bonkas den anderen bekommen. Und genau das hat er ja auch erreicht!«
»Wir können nicht wissen, ob Kanthelms Spiegel ähnlich beschaffen ist wie derjenige, der nun am Grund dieses Berges liegt«, mischte sich Kraark ein. »Wie du vorhin selbst gesagt hast, versuchte er ihn mit aller Macht in seine Gewalt zu bekommen. Insofern gebe ich Minuq Recht. Es ist besser, der Spiegel ist für alle verloren, als dass Kanthelm ihn bekommen hätte.«
»Und wie sollen wir jetzt verhindern, dass die Menschen sich auf der Erde die Köpfe einschlagen?«
»Hebe dir diese Frage für später auf, Jonas. Wir sollten nicht länger an diesem Ort bleiben«, meinte Talinka. Ihre Stimme klang ruhig, aber eindringlich.
»Was ist, Mutter?«, fragte Minuq.
Die alte Wölfin reckte die Nase in den Wind. »Ich weiß es nicht, aber ich spüre, dass etwas an diesem Ort vor sich geht. Etwas Grauenvolles. Vielleicht hätten wir nie hierher zurückkehren sollen.«
Keldins Klippe war bald unter den dichten Kronen des Nadelwalds verschwunden. Noch lange hatte Jonas den Eindruck, als höre er ein tiefes Grollen. Es klang wie ein Gewitter, das in weiter Ferne vorüberzog.
Die Wölfe folgten einem unsichtbaren Weg, der auf die Tiefebene hinausführte. Dort draußen, ungefähr vier Tagesmärsche entfernt, lag Kalvar, die »Stadt der zwei Weisen«.
Kraark berichtete Jonas, wie es den übrigen Gefährten in der Zwischenzeit ergangen war. Darina hatte unter größten Anstrengungen einen Weg aus dem Spiegellabyrinth gefunden. Am Ausgang war dann die Gruppe in einen Hinterhalt geraten.
Mindestens fünf Malkits hatten am Rande des Kristallgartens in aller Ruhe gewartet, bis Darina mit ihren Begleitern ins Freie trat. Die Wissende war aber so geschwächt gewesen, dass sie in dem Moment, als sie den Ausgang des
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