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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Männer lag.
    Im Laufe des Nachmittags verfolgten die stillen Beobachter hinter Keldins Spiegel noch einige andere Gespräche, die sie mal bangen und viel zu selten hoffen ließen. Am frühen Abend trat das Exekutivkomitee zu seiner zweiten Sitzung zusammen. Die Spezialisten für die Fotoauswertung überraschten die Anwesenden zunächst mit einer weiteren Hiobsbotschaft: Die noch am Vormittag für SS-3 gehaltenen Raketen wurden nun als die weiter reichenden SS-4 identifiziert. Das bedeutete, dass bei einem möglichen Angriff auf die Vereinigten Staaten von kubanischem Boden aus Millionen weiterer Amerikaner gefährdet waren. Marschall Carter hielt es für möglich, dass die Raketen innerhalb von zwei Wochen einsatzbereit sein könnten, obgleich nicht auszuschließen sei, dass irgendeine der Stellungen auch »sehr viel früher« zum atomaren Erstschlag gerüstet wäre.
    Die Stimmung im Raum war nicht gerade euphorisch, als Robert McNamara das Wort ergriff. Er stellte drei Optionen zur Beilegung der Krise vor: erstens den diplomatischen Weg über Verhandlungen, zweitens ein aktives Eingreifen durch eine offene Überwachung verbunden mit einer »Quarantäne« gegen Kuba (was die Insel von der Lieferung weiterer Offensivwaffen ausschlösse) und drittens einen Militärschlag gegen die Raketenstellungen und andere strategische Ziele.
    Nur wenige der Anwesenden konnten sich für Vorschlag eins erwärmen. Langwierige Verhandlungen würden ihrer Meinung nach Chruschtschow nur die Zeit verschaffen seine Raketen endgültig in Stellung zu bringen. Die Seeblockade, McNamaras zweite Option, stieß auf zahlreiche Bedenken; man glaubte, Chruschtschow werde auf einen solchen Schritt mit der völligen Abriegelung West-Berlins antworten. Der dritte Vorschlag des Verteidigungsministers fand schließlich die meiste Zustimmung. Vor allem die Vereinigten Stabschefs rieten einmütig zu unverzüglichen Militäraktionen.
    Dennoch wurden auch andere Stimmen laut. Wie würde die UdSSR reagieren? Ein nuklearer Gegenschlag schien durchaus denkbar. McNamara sagte zum Präsidenten: »Ich glaube nicht, dass wir uns über die damit verbundenen Konsequenzen ausreichend im Klaren sind. Ich weiß nicht genau, in was für einer Welt wir nach unserem Schlag gegen Kuba leben werden, und wir, wir hätten es begonnen. Wie, wie nur können wir an diesem Punkt noch anhalten?«

 
    DIE RÜCKKEHR DES SCHLÄFERS
     
     
     
    Jonas hatte einen steifen Nacken. So musste es den Klassenkameraden ergehen, die nach der Schule nichts Besseres zu tun wussten, als sich vor dem Fernsehapparat zu verschanzen. Das stundenlange Starren auf den Kristallspiegel war anstrengender, als er geglaubt hatte.
    Vor dem Lapislazulipalast sanken die Schatten der heraufziehenden Nacht auf das Land. Drinnen im Saal des Großen Rats von Kalvar war es den ganzen Tag nicht richtig hell geworden. Fleißige Helfer aus der Stadt hatten nicht nur die Fenster im Versammlungsraum verdunkelt, sondern auch für das leibliche Wohl der Gäste gesorgt. Vor vielen Jahren schon hatten dieselben den beiden Wanderern ihre Dienste förmlich aufgedrängt und erst vor wenigen Tagen, als dieser unerklärliche Anfall von Trauer Saphirah und Robin heimsuchte, waren sie taktvoll aus dem Palast verschwunden.
    Das Licht, das aus dem blauen Kristallglas fiel, spiegelte sich in der polierten schwarzen Platte des Obsidiantisches. Jonas, seine Eltern, Darina, Kraark, Sam, die beiden Flüsterer und die zwei Fährtensucher blickten gespannt auf das räumliche Bild in Keldins Spiegel. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass schon das Ausstrecken eines Armes reichte, um sich aus dem Konferenzzimmer des Präsidenten einen kleinen Minister oder einen General zu pflücken. Natürlich war das alles nur eine Illusion des blauen Kristalls, aber sie wirkte so echt, dass die stillen Beobachter beinahe selbst wähnten Mitglieder von König Johns Tafelrunde zu sein.
    Plötzlich fiel ein schmaler Lichtstreifen in den Ratssaal. Jonas konnte in dem Kristallglas eine Spiegelung erkennen, die nicht von der Erde stammte: einen matt schimmernden Türausschnitt und darin die Silhouette eines großen Wolfes. Erschrocken fuhr er herum. Ihm war sofort klar, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.
    Minuq! Nur seine Lippen formten das Wort, wegen des Spiegels sprach er es nicht aus.
    Der mächtige Leitwolf blickte ihn einen Augenblick eindringlich an und verschwand dann auf den Flur hinaus.
    Jonas sprang von seinem Stuhl auf und eilte ihm

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