Das Echo der Flüsterer
vielleicht Geheimagenten? Verwirrt hörte Jonas, wie der Mann, den Dr. Gould Frank genannt hatte, nach kurzem Zögern die gleiche Frage aussprach, die er sich spontan auch selbst gestellt hatte.
»Was für einen ›Abgrund‹ meinen Sie, Sir?«
»Ich rede von einem Atomkrieg.«
Bestürztes Schweigen von der anderen Seite.
Und Jonas teilte Franks Betroffenheit. Ein Atomkrieg! Das war die schreckliche Kehrseite des technischen Fortschritts. Einerseits faszinierten Jonas die Entdeckungen der Physiker, Biologen und all der anderen Naturwissenschaftler, aber wenn er darüber nachdachte, welche Folgen die bedenkenlose Anwendung dieses Wissens haben konnte, dann legte sich seine Begeisterung meist schnell wieder. Mit Schrecken hatte er schon vor Jahren die Berichte von den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki gelesen. In der einen Stadt waren zweihunderttausend Japaner ums Leben gekommen, in der anderen vierundsiebzigtausend. Was für ein bitterer Triumph des amerikanischen Fortschritts! Und wie kurzlebig er zudem gewesen war: Die Vereinigten Staaten hatten ihre militärische Überlegenheit in politischen Druck ummünzen wollen, aber die Sowjets hatten nur darüber gelacht. Schon 1949 war ihre eigene Atombombe einsatzbereit gewesen. Am 1. November 1952 jagten die Amerikaner dann auf den Marshallinseln Mike in die Luft, ihre erste Wasserstoffbombe. Aber gerade einmal zehn Monate später zog die Sowjetunion wieder gleich. Größere Bomben folgten. Für Jonas ging von diesen Waffen ein unbeschreibliches Grauen aus. Und jetzt wollte man diese Bestien aufwecken?
»Gehen Sie da nicht ein wenig zu weit, Sir?« Wieder hatte Dr. Goulds Begleiter ausgesprochen, was Jonas dachte. Zur Untermauerung seiner Zweifel fügte Frank hinzu: »Der Präsident hat vor zwei Wochen doch selbst gesagt, dass die Sowjets vermutlich nur neue Verteidigungs- und Kurzstreckenwaffen nach Kuba verschiffen.«
»Sie kennen noch nicht alle Fakten, Frank. Was Jack Kennedy auf der Pressekonferenz am 13. September mitteilte, war das, was er zu diesem Zeitpunkt wusste. Nur zwei Tage später hat unser Geheimdienst im Hafen von Mariel, auf Kuba, einige beunruhigende Beobachtungen gemacht…«
»Was meinen Sie mit ›beunruhigend‹, Sir?«, fragte Frank zögernd.
»Unsere Leute beobachteten ein sowjetisches Frachtschiff, das mit ungewöhnlich geringem Tiefgang in die Docks von Port Mariel einlief…«
»Ein typisches Zeichen für militärische Fracht«, warf Frank ein.
»Ich sehe, Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht. Doch was jetzt kommt, das dürfte neu für Sie sein: Aus den langen Ladeluken der Poltava wurden an den nächsten zwei Tagen einige sehr verdächtige Frachtstücke gehievt. Unsere Analytiker gehen davon aus, dass es sich bei diesem Transportgut mit hoher Wahrscheinlichkeit um MRBM-Komponenten handelt.«
»Medium Range Ballistic Missiles?«, murmelte Frank ungläu big, um dann laut herauszuplatzen: »Sie glauben wirklich, die Russen haben… Mittelstreckenraketen nach Kuba gebracht? Allmählich begreife ich, was Sie vorhin mit beunruhigenden Beobachtungen meinten, Sir.«
»Vielleicht sollte ich noch hinzufügen, dass wenig später ein russischer Militärkonvoi den Hafen von Mariel in Richtung Südwesten verließ. Sein Ziel war San Cristobal, im Innern der Insel.«
»Nicht auszudenken, wenn es sich bei den Raketen um sowjetische SS-4 mit atomaren Gefechtsköpfen handelt! Die Dinger haben eine Reichweite von sechshundert bis tausendfünfhundert Meilen. Und Kuba befindet sich nicht einmal hundert Meilen von der Küste Floridas entfernt. Würde Ministerpräsident Chruschtschow wirklich so weit gehen und im Hinterhof der Vereinigten Staaten Atomraketen stationieren?«
Franks Vorgesetzter antwortete nicht sogleich. Das Schweigen hing wie eine drückende schwarze Gewitterwolke in der Kabine.
Jonas erinnerte sich mit Schrecken an die Atomhysterie, die sein Land schon seit Monaten in Atem hielt. In der Schule fanden regelmäßig Zivilschutzübungen statt, um das richtige Verhalten während eines Atomschlages einzuüben. Im Keller, unter den Klassenzimmern, wurden Frischwasser- und Lebensmittelvorräte gelagert, an den Wänden stapelten sich Sandsäcke. Und überall, wohin man ging, stieß man auf diese ominöse blaurote Broschüre mit dem Titel Schutz vor radioak tivem Niederschlag: Was tun bei einem Atomschlag?. Jonas lief es jedes Mal kalt den Rücken herunter, wenn er in einer Arztpraxis, in einem Drugstore oder sonst irgendwo auf
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