Das Echo der Lüge - Miller, S: Echo der Lüge
holte tief Luft. »Das ist schon ein paar Wochen her. Aber du warst so unglücklich, dass ich dich mit meinen Sorgen nicht belästigen wollte. Lass dir mal keine grauen Haare wachsen, irgendwas kann ich bestimmt für dich tun. Gib mir ein paar Tage Zeit.«
Ich dankte ihr, doch meine Erleichterung war aufgesetzt. Ich hatte angenommen, Karen noch am selben Tag, spätestens morgen zum Essen zu treffen oder wenigstens in ihrer Lunchpause. Aber sie musste zu einer Tagung und würde erst am Wochenende wieder in Toronto sein. Meine wirtschaftliche Lage war dramatischer, als Karen wusste. Seit Pascals Verschwinden hatte ich von dem Haushaltskonto gelebt, das er mir eingerichtet und durch das er zum Ausdruck gebracht hatte, dass er nicht gratis bei mir wohnen wollte. Dieses Geld würde bald aufgebraucht sein. Ich musste handeln, Lektoren anderer Verlage anschreiben, Redaktionsarbeiten übernehmen. Schmerzhaft wurde mir klar, dass ich mein Leben zu stark auf Pascal abgestimmt, meine Unabhängigkeit in der Ehe so weit verloren hatte, dass ich sie nicht so schnell zurückerobern würde. Und das bereute ich an diesem heißen Spätsommertag in Toronto am meisten.
8
Meine Tante Dora war die exzentrischste Person in unserer Familie, so verrückt, dass man sie nur von Zeit zu Zeit genießen konnte. Doras Lebensgeschichte war schillernd. Wie ihr Bruder hatte sie sich von Deutschland aus aufgemacht, in Kanada ein besseres Leben zu finden; der wahre Grund war jedoch ihre gescheiterte Ehe mit einem Mann aus Bayern gewesen. Als ausgebildete Zahnarzthelferin hatte sie bei einem Zahnarzt in Toronto bald einen guten Job gefunden, ihm die Buchhaltung abgenommen und ein sorgloses Leben geführt. Zu sorglos. Selbst meinen Eltern war aufgefallen, dass Dora teure Reisen nach Barbados und Acapulco unternahm, dass sie ihren arbeitslosen Lebensgefährten dorthin einlud und auch sonst mit dem Geld um sich warf. Lange Zeit war der Krug unbeschadet zum Brunnen gegangen, bis eine Steuerprüfung des Zahnarztes ans Licht brachte, dass Dora ihn jahrzehntelang betrogen hatte. Mit jeder Abrechnung hatte sie kleine Summen auf die Seite geschafft. Der Zahnarzt hetzte ihr die Justiz auf den Hals, Dora verlor alles und wäre wohl ins Gefängnis gewandert, hätte sie sich nicht rechtzeitig auf die US-Seite der Niagarafälle abgesetzt. Ihr Lebensgefährte Ernie war mangels Alternativen mitgekommen.
Wie früher mit meinen Eltern fuhr ich den Highway südwestlich Richtung Niagara Falls, ins Grenzgebiet zwischen Kanada und den USA. Obwohl es nur 150 Meilen bis dorthin waren, hatten meine Eltern Dora selten besucht. Ich vermutete, mein Vater hatte sich dafür geschämt, dass seine Schwester als Kriminelle angesehen wurde. Nach dem Tod meiner Eltern stellte Tante Dora die einzige Familie dar, die ich noch besaß. Zu ihr wollte ich, weil ich hoffte, dass in der fremden Umgebung alles, was mich beschäftigte, in einem anderen Licht erscheinen würde.
Es gab die Stadt Niagara Falls zweimal, östlich und westlich der Wasserfälle, der Fluss bildete die Staatsgrenze, beide Städte lebten von den Touristen, die das Naturschauspiel besuchten und deren Zahl die Einwohnerzahl um ein Vielfaches überstieg. Dora wohnte im US-Bundesstaat New York, sie und Ernie lebten von einer winzigen Rente. Das Einzige, was ihr gehörte, war das Haus. Mein Vater hatte es ihr gekauft, weil er seine Schwester nicht völlig mittellos sehen wollte. Dora Castle , wie sie es nannte, war eine Bruchbude, und doch hatte ich liebevolle Erinnerungen daran.
Nach einer flüchtigen Grenzkontrolle fuhr ich über die Brücke ins Nachbarland und durchquerte das Städtchen. Doras Haus stand am Stadtrand, wohin sich nie ein Tourist verirrte. Dahinter befand sich ein stark befahrener Parkplatz, dort luden die großen Laster ihre Fracht um, bevor sie zum Zoll und nach Kanada weitermussten. Tag und Nacht war das ein Anrollen und Abfahren, die Lichter der Scheinwerfer fielen in Doras Fenster, nicht selten tauchte die Zollfahndung auf dem Parkplatz auf.
Ich erreichte Dora Castle am späten Nachmittag und erschrak, wie sehr das Haus seit meinem letzten Besuch gelitten hatte. Als ich mich dem Eingang näherte, hörte ich Rumbamusik.
»Yo soy un hombre sincero, de donde crece la palma!«, erscholl eine kräftige Frauenstimme von drinnen. Ich hatte mich bei Dora telefonisch angemeldet, ohne eine genaue Zeit zu nennen. Ich klopfte, der Gesang verlagerte sich in ein anderes Zimmer. Ich klopfte lauter. Die Sängerin
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