Das Echo der Lüge - Miller, S: Echo der Lüge
der Heilige Gral. »Was mache ich jetzt mit meinem Pie?«
Für einen Augenblick bereute ich, hergekommen zu sein. Auch wenn die beiden sich um gute Stimmung bemühten, war die angespannte Lage, in der sie lebten, zu spüren. Sofort schämte ich mich dafür, so egoistisch zu denken. »Dann dusche ich eben kalt.« Ich stand auf, nahm meinen Koffer und schleppte ihn die schmale Treppe hoch.
Vor langer Zeit, bevor das hässliche Hotel hochgezogen worden war, hatte das Restaurant Twist of the Mist einen schönen Blick auf die Wasserfälle gehabt. Mittlerweile war das neue Hotel veraltet, die Korrosion hatte die Eisenstreben der Balkone freigelegt, aber immer noch behauptete das Twist of the Mist , den besten Blick auf die Niagarafälle zu bieten. Dora hatte sich für einen violett-weiß gestreiften Hosenanzug entschieden, der ihr zu weit geworden war. Ernie trug stets das Gleiche, Polohemd und eine Hose, die er liebte, weil man Flecken darauf nicht sah. Es war nicht nötig, im Twist of the Mist vorzubestellen, der Kellner fand es nicht der Mühe wert, uns zum Tisch zu bringen, zeigte nur ungefähr in die Richtung. Dora schwebte durch das Restaurant wie ein Hollywoodstar, der das Blitzlichtflimmern an sich abperlen lässt.
»Die Fischplatte ist hier natürlich nicht mit der in Miami zu vergleichen.« Sie prüfte, ob das Blechbesteck sauber war. »Dort kam der Fisch praktisch noch lebend in die Pfanne, weißt du noch, Ernie?« Sie lachte und erwartete, dass er mitlachte. Ernie verzog kaum den Mund, jede ihrer Geschichten hatte er schon millionenmal gehört. Ich hatte den Eindruck, wenn Dora erzählte, klappte er einfach die Ohren von innen zu.
»Dreimal Fischplatte«, sagte sie, nachdem wir die Getränke bestellt hatten. Der Kellner notierte nichts. »Servieren Sie noch diese kleinen Fische … Wie hießen die? Ernie, erinnerst du dich, auf Jamaika, wie hießen die kleinen Fische?«
»Sardinen.«
»Aber nein! Das waren andere … sehr teuer.« Als ob sie eine Erscheinung hätte, zeigte sie zur Fensterfront. »Das gibt’s doch nicht! Wann haben sie das Mallory abgerissen?«
»Vor fünf Jahren«, antwortete der Kellner.
»Wollen Sie behaupten, dass ich seit fünf Jahren nicht mehr hier war?«
Die Fischplatte kam, war reichhaltig, schwamm in Fett, das Bier war kanadisch, Dora mischte es mit Gingerale. Sie nahm einen kräftigen Schluck und sah mich an.
»Willst du es uns irgendwann erzählen, Tony, oder muss ich raten, was mit dir los ist?« Ihre eisgrauen Augen fixierten mich. »Du bist die Frau eines stinkreichen Schweizers – wieso kommst du ausgerechnet hierher, an den hässlichsten Fleck im Staate New York?«
»An den hässlichsten Fleck von ganz Nordamerika«, ergänzte Ernie.
Dora hatte recht, es war kindisch, ihnen mein Schicksal vorzuenthalten, bloß der hilflose Versuch, eine Zeit lang nicht daran denken zu müssen.
»Ich habe euch gesagt, dass mein Mann seit drei Monaten vermisst wird«, begann ich. »Mittlerweile glaube ich selbst daran, dass er tot ist. Alle Umstände sprechen dafür.«
»Welche Umstände?«
Widerwillig erzählte ich, was auszusprechen mir schwerfiel.
»Mein Beileid, Tony.« Dora wartete, bis der Kellner das Geschirr abgeräumt hatte. »Aber das beantwortet meine Frage nicht.«
»Weshalb ich euch besuche – liegt das nicht auf der Hand? Mom und Dad sind tot, du bist meine nächste Verwandte.«
Dora sah Ernie an. »Das ist schmeichelhaft, Schätzchen, aber wir haben geglaubt, du lebst in Saus und Braus, hast hippe Freunde überall auf der Welt und kannst dir aussuchen, ob du in Südfrankreich, London oder Zürich leben möchtest.«
»Stimmt leider nicht.« Ich hatte keine Lust, über die Testamentsangelegenheit zu sprechen. »Mir fällt in Toronto derzeit die Decke auf den Kopf. Darum bin ich hier.«
»Hast du am Telefon nicht mal ein Haus in Frankfurt erwähnt?« Dora ließ nicht locker.
»Pascals Villa.« Ich nickte.
»Warum ziehst du nicht dorthin?«
»Weil ich da nichts verloren habe.« Ich musste lachen, die Idee war mir nie gekommen. »Genau genommen bin ich dort nur ein einziges Mal gewesen, und selbst das war ein unglücklicher Zufall.«
Während ich erzählte, fiel mir die merkwürdige Begebenheit selbst wieder ein. Pascal hatte mich an viele schöne Plätze der Welt entführt, seltsamerweise nie nach Frankfurt, wo sein Haus stand. »Was sollen wir dort?«, hatte er gesagt. »Es ist ungemüt lich, seit meiner Scheidung fühle ich mich dort nicht mehr wohl.« Er
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