Das Echo der Schuld
Engelsbrücke befallen hatte. Irgendetwas stimmte nicht. Andrew wirkte so gequält.
»Andrew«, fragte sie leise, »du wirst doch bald mit Susan sprechen? Es kann doch nicht ewig so weitergehen.«
Er blickte an ihr vorbei in irgendeine Ecke des Zimmers, in der nichts war als die Dunkelheit der vergehenden Nacht.
»Ich wollte es dir schon die ganze Zeit erzählen«, sagte er so leise wie sie zuvor, »aber mir fehlten die Worte. Mir fehlte der Mut.«
Ihr wurde kalt. Fröstelnd zog sie die Decke enger um ihren Körper. »Was? Was wolltest du erzählen?«
»Es hat sich etwas geändert. Es ist … ich kann nicht mit Susan sprechen. Nicht mehr.«
»Warum nicht?«
»Weil …« Er konnte ihr nicht in die Augen sehen. Er saugte sich förmlich an der leeren, dunklen Ecke fest.
»Susan erwartet ein Kind«, sagte er.
Draußen auf der Straße schrie jemand, gleich darauf ertönte ein Klappern und Scheppern. Lautstark wurde offenbar die Last eines Lieferwagens abgeladen. Zwei Männer schienen miteinander zu streiten. Eine Frau mischte sich mit schriller Stimme ein.
Virginia hörte es kaum. Nur als ein fernes Geräusch im Hintergrund, unwirklich und wie aus einer anderen Welt stammend.
»Was?«, fragte sie fassungslos.
»Sie hat es mir Ende Februar gesagt.«
»Aber wie … ich meine … wann … ?«
»Im September«, sagte Andrew, »es wird Mitte September zur Welt kommen.«
Ihr wurde schwindelig, sie musste sich an das wuchtige, hölzerne Kopfteil des Bettes lehnen.
»Im September«, sagte sie. »Dann wurde es also im Dezember …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende.
Andrew sah aus, als wollte er am liebsten die Flucht ergreifen. »Ja, im Dezember«, bestätigte er, »als Susan in Cambridge war. Wir hatten beide getrunken, es war Weihnachten … es passierte einfach …«
Sie hatte sofort begriffen, wie die Dinge lagen, und doch gegen jede Vernunft gehofft, alles verhielte sich ganz anders. »Du hast immer gesagt, dass ihr seit über einem Jahr nicht mehr …«
»Das stimmte auch. Es war nur dieses eine Mal. Aus einer Stimmung heraus, aus einer Champagnerlaune … Ich habe es später selbst nicht mehr verstanden.«
»Du bist ganz sicher, dass es dein Kind ist?«
»Ja«, sagte Andrew.
Der Schwindel wurde stärker. Sie öffnete den Mund, um zu schreien. Aber sie brachte keinen Laut hervor.
3
Janie Brown hasste den Mittagsschlaf, zu dem sie während ihrer Schulferien jeden Tag nach dem Essen verdonnert wurde. Er erschien ihr als eine schreckliche Zeitverschwendung. Zudem fand sie ihn so sinnlos: Während der Schulzeit musste sie 1 ja auch nicht schlafen, denn da kam sie ohnehin erst irgendwann am Nachmittag zurück.
Aber Mum bestand auf dieser halben Stunde Ruhe, ganz gleich, wie oft Janie versicherte, kein bisschen müde zu sein. Einmal, während einer ihrer heftigen Diskussionen um dieses Thema, hatte sie gesagt: »Ich brauche einfach ein wenig Zeit für mich!« Seither argwöhnte Janie, dass sie nur ins Bett geschickt wurde, damit Mum sich nicht mit ihr beschäftigen musste. Sie setzte sich mittags immer entweder ins Wohnzimmer oder im Sommer auf den kleinen Balkon und rauchte hektisch fünf oder sechs Zigaretten hintereinander. Das sei ihre Art zu entspannen, hatte sie Janie einmal erklärt. Mum musste viel arbeiten. Sie hatte einen Job in einer Wäscherei, wo sie die Wäsche anderer Leute wusch und bügelte, und sie war immer fix und fertig. Normalerweise blieb sie während ihrer Mittagspause im Betrieb, aber wenn Janie Ferien hatte und nicht in der Schule essen konnte, kam sie nach Hause geeilt, um rasch irgendetwas zu kochen. Sie selbst rührte davon kaum etwas an.
»Ich ernähre mich von Zigaretten«, sagte sie oft, aber Janie dachte, dass die sie kaum richtig satt machen konnten, denn Mum war entsetzlich dünn. Um zwei Uhr musste sie wieder weg und kam dann erst abends zurück. Janie fühlte sich manchmal sehr allein. Die Mütter ihrer Freundinnen waren zu Hause, spielten mit ihren Kindern, kochten ihnen am Nachmittag Kakao und machten ihnen Marmeladenbrote. Dafür waren diese Kinder allerdings nicht so selbstständig. Sie hatte gehört, wie die Mutter ihrer Freundin Sophie zu Mum gesagt hatte: »Ich staune immer wieder, wie selbstständig Ihre Janie ist!«
Manchmal, wenn sie sich traurig und einsam fühlte, dachte sie daran, und es ging ihr sofort besser. Sie hatte aber auch manch anderes aufgeschnappt, und das war nicht so erfreulich. Sie wusste, dass man Mum »alleinerziehend« nannte
Weitere Kostenlose Bücher