Das Echo der Schuld
und dass dies ein Umstand war, der bei vielen Leuten ein an Verachtung grenzendes Mitleid auslöste. Mrs. Ashkin, die im Haus zwei Etagen unter ihnen wohnte, hatte zu ihrer Nachbarin gesagt, Janies Vater sei unbekannt, und sie hatte hinzugefügt: »Kommen wahrscheinlich zu viele in Frage …« Janie wusste nicht, was sie damit meinte, aber der Tonfall und der Gesichtsausdruck von Mrs. Ashkin hatten ihr gezeigt, dass Mum offenbar schon wieder irgendetwas getan hatte, was ihr die Verachtung der Leute einbrachte.
Janie hatte sich immer nach einem Vater gesehnt. Oder – vielleicht nicht immer, aber zumindest seit der Zeit, als sie zu begreifen begann, dass in ihrem Leben etwas anders war als bei den übrigen Gleichaltrigen. Seit den Tagen der Play School, als sie begonnen hatte, nachmittags andere Kinder zu besuchen und zu Geburtstagspartys zu gehen, war ihr aufgegangen, dass es in anderen Familien einen Daddy gab. Daddys waren etwas ganz Tolles. Die Woche über mussten sie arbeiten, verdienten das Geld und sorgten so dafür, dass die Mütter daheim bleiben und sich um ihre Kinder kümmern konnten. An den Wochenenden gingen sie mit den Kindern zum Schwimmen, unternahmen Fahrradtouren oder brachten den Kindern das Skateboardfahren bei. Sie reparierten zerbrochenes Spielzeug, flickten Fahrradschläuche, erzählten Witze und halfen, Baumhäuser zu bauen. Sie luden die Familie in den Tierpark oder zum Pizzaessen ein. Sie waren nicht nervös und halb verhungert und sagten nicht dauernd, dass sie Ruhe brauchten. Oft waren sie genau für die Unternehmungen zu haben, vor denen die Mütter warnten. Zum Beispiel im Schlauchboot einen Nebenfluß des Great Ouse entlangzuschippern. Das hatte der Vater von Katie Mills mit fünf Kindern an Bord getan, und Janie hatte es kaum fassen können, dass sie dabei sein durfte. Gut, natürlich war auch etwas schief gegangen, die unsportliche Alice Munroe war ins Wasser gefallen, aber außer dass sie hinterher patschnass war und von allen ausgelacht wurde, war überhaupt nichts passiert. Sie hatten einfach alle einen Riesenspaß gehabt.
Janie konnte sich absolut nicht vorstellen, dass ihre Mutter jemals so etwas tun würde. An einem Wochenende eine Bootstour mit fünf Kindern zu machen … o Gott, das war undenkbar! Mum mit ihrer Nervosität und ihrem ständigen Kopfweh und ihrer Unfähigkeit, während ihrer Freizeit länger als zehn Minuten ohne eine Zigarette auszukommen … Mum mochte es nicht einmal, wenn Janie am Samstag oder Sonntag eine Freundin zu sich einlud. Und nicht einmal an ihrem Geburtstag im September durfte Janie eine richtige Party veranstalten.
»Du kannst ein Mädchen mitbringen«, sagte Mum immer wieder, »und ich gebe dir etwas Geld, damit du für euch beide ein Stück Kuchen kaufen kannst.«
Das war alles. Wenn sie jedoch einen Daddy hätten … Wenn Mum sich in einen Mann verlieben und ihn heiraten würde …
Und bald war es ja wieder so weit. Heute war der 28. August. Am nächsten Freitag begann schon der September. Und am 17. September war ihr, Janies, neunter Geburtstag. Ein Sonntag in diesem Jahr. Wie wundervoll wäre es, wenn sie alle ihre Freundinnen einladen könnte! Auf kleinen Einladungskärtchen mit vorgedrucktem Text:
Liebe … ich würde mich sehr freuen, wenn Du am … den … um … Uhr zu meinem Geburtstag kommen würdest.
Deine …
Janie hatte sich die Karten im Schreibwarenladen schon ausgesucht. Sie waren lindgrün und mit vielen kleinen Glückskäfern und Kleeblättern bedruckt. Sie wusste auch schon ganz genau, wer alles eine solche Einladung bekommen sollte, sie hatte sich eine Liste gemacht, die sie in ihrer Schreibtischschublade verwahrte. Sie hatte geplant, welchen Kuchen es geben sollte, welche Spiele sie spielen würden und wie die kleinen Geschenke aussehen sollten, die ihre Gäste dabei gewinnen konnten. Es war alles perfekt. Nur – Mum würde nicht mitmachen. Das wusste sie.
Es regnete draußen in Strömen. Janie fand den Mittagsschlaf deshalb nicht ganz so furchtbar wie am gestrigen Sonntag, als die Sonne geschienen und Mrs. Ashkin morgens gesagt hatte, mit dem schönen Wetter sei es nun bald vorbei. Janie hätte so gern den ganzen Tag unten im Hof gespielt, wo der Hausmeister eine Schaukel aufgestellt hatte. Aber sie hatte hier oben liegen müssen, im sanften Sonnenlicht, das durch die vorgezogenen gelben Vorhänge einfiel. Heute war alles grau, das Zimmer düster.
Sie musste an den Mann denken, den sie am vergangenen Freitag
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