Das Echo der Schuld
Als der Zug endlich kam, war er ihr wie zufällig in dasselbe Abteil gefolgt und hatte ihr gegenüber Platz genommen. Er konnte seinen Blick nicht von ihr wenden und kam sich zudringlich, albern und irgendwie verzweifelt vor. Sie hatte sofort ein Buch aus der Tasche gezogen und sich in seine Seiten vertieft, und er hatte auf den Umschlag gestarrt und sich den Kopf zerbrochen, wie er es anstellen könnte, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Als sie endlich den Kopf hob und für ein paar Minuten hinaus in die von Raureif überzogene Landschaft von Essex blickte, über deren sanft gewellte Hügel sich bereits die frühe winterliche Dämmerung senkte, hatte er einen Vorstoß gewagt.
»Tolles Buch«, sagte er wie nebenher, »ich habe es auch gelesen.«
Das stimmte nicht. Er kannte weder den Titel noch den Autor. Die junge Frau hatte ihn überrascht angeblickt.
»Ja?«
»Ja. Vor … einem Jahr ungefähr …« Er hatte einen größeren Zeitraum angegeben, um eine Entschuldigung zu haben, wenn er in Details Unsicherheit zeigte – sollte sich eine Diskussion ergeben.
Sie runzelte die Stirn. »Das kann nicht sein. Dieses Buch ist doch gerade erst erschienen …«
Er hätte sich ohrfeigen können. »Ja? Wirklich?«
Sie blätterte ganz nach vorn. »Ja. Im Oktober. Also vor acht Wochen etwa.«
»Hm.« Er tat so, als studiere er den Titel noch einmal ganz genau. »Ich glaube, ich habe mich geirrt«, bekannte er dann und kam sich wie ein Idiot vor. »Ich kenne das Buch wohl doch nicht.«
Sie hatte darauf nichts erwidert, sich stattdessen wieder in die Lektüre vertieft.
Er hatte alles vermasselt, aber es war ihm schon manchmal so ergangen: Wenn er nichts mehr zu verlieren hatte, wurde er von genau der Kühnheit erfasst, die ihm sonst üblicherweise fehlte.
»Ich habe mich nicht geirrt«, sagte er. »Ich wusste von Anfang an, dass ich das Buch nicht kenne.«
Sie blickte auf. Wirkte etwas genervt. »Ach?«
»Ich wollte mit Ihnen ins Gespräch kommen. Und habe es wohl außerordentlich dumm angefangen.« Er lächelte hilflos. »Ich heiße Frederic Quentin.«
»Virginia Delaney.«
Immerhin hatte sie ihm ihren Namen genannt. Sie hätte sich auch wortlos abwenden können. Er hatte es sich nicht völlig mit ihr verdorben.
Sie hatten im September des darauffolgenden Jahres geheiratet, zwei Wochen nachdem die Prinzessin von Wales bei einem Autounfall in Paris ums Leben gekommen war. Er erinnerte sich, dass alle Gäste der Hochzeit nur darüber gesprochen hatten, dass jeder der Anwesenden den Trauerfall in der königlichen Familie für spannender gehalten hatte als die Tatsache, dass sich zwei Menschen das Jawort gaben. Aber das hatte ihn nicht gestört. Er war so glücklich gewesen, dass er nicht einmal dann gelitten hätte, wenn überhaupt niemand zu der Feier erschienen wäre.
Er blickte auf seine Uhr. Jede Sekunde musste der Zug eintreffen. Er überprüfte noch einmal, ob er am richtigen Gleis stand. Er hatte wirklich ein wenig Herzklopfen, genau wie damals, an jenem dunklen Dezembertag. Er wusste, dass er Virginia nach neun Jahren Ehe noch ebenso unvermindert liebte wie am Anfang, vielleicht sogar noch mehr.
Er fieberte dem Moment entgegen, da er sie in die Arme nehmen konnte.
2
Zwanzig Minuten später war er völlig ratlos.
Der Zug war fast auf die Minute pünktlich eingetroffen, Scharen von Reisenden waren aus den geöffneten Türen geströmt. Da Frederic nicht wusste, in welchem Wagen Virginia saß, hatte er sich so positioniert, dass er einen guten Überblick gewann; er konnte sich nicht vorstellen, sie zu übersehen. Er wartete und wartete. Vielleicht war sie in einem der letzten Waggons gewesen, und hoffentlich musste sie sich nun nicht mit zu viel Gepäck abschleppen. Er wäre ihr gern entgegengegangen, wagte es aber zunächst nicht, seinen Platz zu verlassen, aus Angst, sie könnten sich dann verfehlen. Zwischendurch versuchte er sie auf ihrem Handy anzurufen, aber entweder hatte sie es nicht eingeschaltet, oder sie hörte es nicht. Es sprang nur die Mailbox an.
Hier spricht Virginia Quentin. Bitte hinterlassen Sie mir eine Nachricht …
Als sich der Bahnsteig so weit gelichtet hatte, dass er nicht mehr fürchten musste, im Gewühl an ihr vorüberzulaufen, begann er am Zug entlangzugehen. Niemand stieg mehr aus, inzwischen waren sogar die meisten Wartenden schon eingestiegen. Vereinzelt standen noch Leute herum, die einander gerade begrüßten, zwei jugendliche Tramper sortierten ihre unzähligen
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