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Das Echo der Schuld

Das Echo der Schuld

Titel: Das Echo der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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regnete es nicht.
    Weil er noch so viel Zeit hatte bis zur Ankunft des Zuges, trank er einen Kaffee in einem Stehimbiss und beobachtete die Menschen, die an ihm vorüberströmten. Er mochte Bahnhöfe. Und Flughäfen. Er mochte Orte, die einen Aufbruch signalisierten, Bewegung und eine gewisse Hektik und Eile ausstrahlten. Begriffe, die ihm besonders in seine augenblickliche Lebensphase zu passen schienen. Er befand sich selbst im Aufbruch, wollte vorankommen, wollte weiterkommen. Das war nicht immer so gewesen. Lange Jahre hatte er geglaubt, es reiche ihm völlig, die ererbte Bank weiterzuführen, den Reichtum seiner Familie zu erhalten und sich möglichst so geschickt anzustellen, dass er ihn noch mehrte. Als er Virginia heiratete, als Kim geboren wurde, war ihm die Familie als das Zentrum seines Lebens erschienen, wichtiger als alle beruflichen Möglichkeiten und Vorstellungen. Die Unruhe hatte sich später erst an ihn herangeschlichen, als Kim ungefähr drei Jahre alt war, als das Leben mit Frau und Kind schon Alltag geworden war, ihm nicht mehr als einziges großes Wunder erschien. Auf einmal war er fast schwermütig geworden bei dem Gedanken, sein ganzes weiteres Leben Morgen für Morgen in seine Bank zu gehen, mit langweiligen Kunden zu sprechen und öde Partys zu veranstalten, bei denen sich alle auf seine Kosten betranken. Er musste die Großanleger hofieren, auch wenn er sie verabscheute, und nie hatte er das Gefühl, wirklich etwas zu bewegen, nicht in seinem Leben und schon gar nicht in seinem Land. Er tat das, was seine Vorfahren getan hatten, aber ohne dabei das Bewusstsein zu genießen, etwas selbst geschaffen zu haben. Sein Urgroßvater hatte die Bank gegründet. Sein Großvater und sein Vater hatten sie entscheidend ausgebaut. Er selbst hielt nur noch zusammen, was andere aus dem Boden gestampft hatten.
    Er war schon als Student bei den Konservativen engagiert gewesen, hatte etliche gute Kontakte aufgebaut, diese dann jedoch lange Zeit vernachlässigt. Als die Phase der Unruhe begann – er nannte diese Zeit auch für sich immer so: Die Phase der Unruhe –, hatte er zunächst langsam begonnen, diese alten Fäden wieder aufzunehmen. Er wusste nicht genau, ob er von Anfang an eine politische Karriere im Sinn gehabt hatte. Wahrscheinlich schon. Vielleicht hatte der Gedanke, einmal im Interhaus zu sitzen und aktiv etwas zu den Geschicken seines Landes beizutragen, schon immer in ihm geschlummert.
    Er sah auf seine Uhr. Noch zehn Minuten bis zur Ankunft des Zuges. Seinen Kaffee hatte er längst ausgetrunken. Er legte ein paar Münzen auf den Bistrotisch neben seine Tasse und machte sich langsam auf den Weg zum Bahnsteig.
    Es war auch ein Bahnhof gewesen, auf dem er Virginia zum ersten Mal gesehen hatte. Allerdings nicht King's Cross, sondern Liverpool Street. Beide hatten sie auf den Zug nach Cambridgeshire und Norfolk gewartet. Er wollte nach King's Lynn, weil ihn der Verwalter seines Landsitzes, Jack Walker, zwei Tage zuvor angerufen hatte. Ein verheerendes Unwetter hatte große Schäden am Dach des Haupthauses angerichtet, Jack konnte die Reparaturen nicht allein durchführen und wollte sich wegen der zu erwartenden Kosten mit seinem Chef absprechen, Frederic hatte gestöhnt, es war Dezember, und wie immer platzte sein Terminkalender kurz vor Weihnachten und Jahresende aus allen Nähten. Aber er sah ein, dass er einen Angestellten mit derart kostenintensiven Entscheidungen nicht allein lassen konnte. Während er am Bahnhof stand, frierend, die kalten Hände tief in seine Manteltaschen vergraben, hatte er sehr ernsthaft darüber nachgedacht, ob es vielleicht sinnvoll wäre, Ferndale House zu verkaufen. Er selbst würde nie dort leben wollen, nicht einmal seine Urlaube verbrachte er in dem düsteren Gemäuer. Ein Klotz am Bein, der gewaltige Kosten verursachte, mehr war Ferndale nicht für ihn. Nur seine Loyalität gegenüber seinen verstorbenen Ahnen, für die das Haus eine Art Sammelpunkt für alle Familienmitglieder dargestellt hatte, hielt ihn bislang vor einer endgültigen Entscheidung zurück.
    Virginia hatte ein paar Schritte von ihm entfernt gewartet. Eine junge blonde Frau, sehr schmal und blass, gehüllt in einen schwarzen Wintermantel, in den sie sich tief hineinkuschelte. Die Traurigkeit auf ihrem Gesicht hatte ihn fasziniert. Er hatte sich ertappt, dass er immer wieder zu ihr hinüberschaute und dass er ihr am liebsten noch seinen Mantel angeboten hätte, da sie so sehr zu frieren schien.

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