Das Echo der Vergangenheit
Ehrlich gesagt wird mir ein bisschen Distanz guttun.«
Sofie suchte nach einem Argument, aber wenn er ihr mit Carly helfen konnte, würde sie überaus dankbar sein. Und es war mehr als das, wurde ihr klar. »Du kannst deinen Wagen bei Gail lassen. Wir nehmen meinen.«
Er klappte sein Handy auf, ließ sich die Nummer der Fluglinie geben und fragte nach einem Direktflug nach LaGuardia. Zwei Tickets. Familiärer Notfall.
* * *
»Sie müsste jede Minute hier sein«, sagte Carly zu der Schwester und tat so, als wäre ihr erfundenes Kindermädchen auf dem Weg.
»Du musst hier warten, bis du offiziell ausgetragen bist.« Die Krankenschwester erklärte ihr die Grundsätze der Schule, aber was nützten Grundsätze, die alle Macht den Erwachsenen überließen, die dann Dinge tun konnten wie …
Sie krallte die Hände in ihren Bauch. »Mein Bauch tut weh. Ich muss zur Toilette.«
»Gut. Ich gebe dir den Pass.« Sie reichte ihr das rote Pappkreuz, den Ausweis der Krankenstation, der durch die Glastüren der Klassenzimmer leicht zu erkennen waren, damit Kinder nicht aufgehalten wurden, wenn sie sich übergeben mussten. Carly nahm ihren Rucksack, eilte hinaus und machte sich auf den Weg zu den Toiletten, doch dann ging sie an der Tür vorbei und durch einen Seiteneingang nach draußen. Sie durfte nicht zulassen, dass Grandma beim Abholen offiziell ihre Unterschrift hinterließ. Selbst wenn ihr Name auf der Leute-die-Kinder-abholen-dürfen-Liste wäre – und das war er garantiert nicht – und selbst wenn sie das nicht nachprüften, was sie vielleicht nicht taten, würde Daddy Bescheid wissen, wenn Grandma unterschrieb. Carly lief zur Vorderseite des Gebäudes und versteckte sich in einer Nische, um auf ihre Großmutter zu warten.
Nach einigen Minuten hielt ein Auto, derselbe silberne Wagen, den Grandma früher schon gefahren hatte, mit dem plüschigen Lenkrad-überzug. Carly hängte sich den Rucksack über die Schulter und eilte zu ihr. Ihre Großmutter sah sie prüfend an, dann ließ sie die Türschlösser aufschnappen und Carly stieg ein.
Tränen verstopften ihr die Kehle. »Danke, Grandma.«
»Musst du zu einem Arzt?«
Sie schüttelte den Kopf. Hatte sie wirklich geglaubt, Carly wäre krank? Aber andererseits war Sofie diejenige gewesen, die sofort verstanden hatte. »Kann ich bitte mit zu dir kommen? Ich muss dir etwas zeigen.« Bevor der Mut sie verließ.
Grandma Beth streckte die Hand aus und drückte Carlys Arm. »In Ordnung, Liebes. Ich bin froh, dass du angerufen hast.«
Sie fuhren schweigend, aber Carly blickte immer wieder zur Seite. Es war mindestens drei Jahre her, dass sie ihre Großmutter gesehen hatte, auch wenn sie nicht sehr viel anders aussah. Dieselben blonden Haare, kurz geschnitten, dieselbe Brille oder vielleicht auch nicht. Sie sah nicht aus, als wäre sie sauer. Vielleicht war sie traurig. Was würde sie wohl sagen, wenn sie die Fotos sah? Was, wenn sie es Daddy erzählte?
Carly konnte sich nicht einmal vorstellen, wie schlimm das wäre. Vielleicht war das Ganze ein Fehler. Aber was sollte sie sonst tun? Es dauerte so lange, durch den Verkehr bis zu Grandmas Haus zu fahren, dass ihr Magen ein einziger Knoten war. Ein Fingernagel hatte angefangen zu bluten und sie hatte nicht einmal bemerkt, dass sie an den Nägeln gekaut hatte. Die Schachtel lag wie Blei auf ihrem Schoß. Wie hatte sie nur glauben können, sie könnte irgendjemandem den Inhalt zeigen?
Sie konnte nicht. Es war zu schrecklich. Und wenn Daddy erfuhr, dass sie die Bilder jemandem gezeigt hatte … Grandma liebte sie nicht. Warum sollte sie ihr etwas so Wichtiges anvertrauen? Warum war Sofie nicht hier?
Als sie in die Garage fuhren, stieg Carly aus, ohne ihren Rucksack mitzunehmen, aber ihre Großmutter sagte: »Vergiss deine Tasche nicht.«
Na gut, sie würde sie mit ins Haus nehmen. Sie schob den Tragegurt über ihre Schulter. Das Haus war größer und schöner als die Wohnungen, in denen ihr Dad und sie jemals gewohnt hatten. Weiche Teppiche und die gelben und cremefarbenen Möbel sahen neu aus. Alles hatte seinen Platz, aber nicht so, wie Daddy seine Sachen aufbewahrte, alles mit praktischer Beschriftung. Grandmas Haus sah fröhlich und gemütlich aus.
Sie gingen in die Küche und Grandma holte eine große Packung Feigenkekse und schenkte ihr ein Glas Milch ein. Dann machte sie einen Schritt zurück. »Lass mich dich anschauen.«
Carly zuckte mit den Schultern. »Ich bin’s nur.«
»Elf bist du
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