Das Einhornmädchen Vom Anderen Stern
brauchen. Erst dann werden wir einen sicheren Zufluchtsort für all die mißhandelten und mißbrauchten Kinder in diesen Minen haben. Wir können nur einen Schritt nach dem anderen machen, Acorna.« Er sprach mit soviel Nachdruck, wie er konnte, und dennoch war der mitleiderregende Ausdruck in Acornas Augen beinahe mehr, als er zu ertragen vermochte.
Welch erstaunliche Kräfte dieses höchst ungewöhnliche Mädchen besaß!
Im Dezember 1936 entsagte der englische König Edward VIII.
seinem Thron, um eine amerikanische Geschiedene zu heiraten: Wallis Simpson. Noch vor Weihnachten jenes Jahres sangen die Schulkinder von Land’s End bis John O’Groats:
»Horcht, die Heroldengel johlen, Mrs. Simpson hat uns den König gestohlen.« Niemand vermochte je herauszufinden, wie das Spottlied sich so schnell verbreitet hatte; es war gewiß nicht in einer Rundfunksendung des BBC ausgestrahlt worden.
Die Geschichte von einer silbernen Göttin mit einem Horn in der Mitte ihrer Stirn, die eigens nach Kezdet gekommen war, um Kinder zu heilen und zu befreien, verbreitete sich mit vergleichbarer Geschwindigkeit. Wie beim Lied über Mrs.
Simpson war die einzige Gewißheit, daß es von niemandem weitergetragen wurde, der sich in Amt und Würden befand.
Als der Rest von Siri Tekus Arbeitskolonne von ihrer Zwölf-Stunden-Schicht Untertage nach oben kam, berichtete Laxmi ihnen, daß Sita Ram, die Herrin des Himmels und von Übertage, in der Verkleidung einer Didi Anyag besucht, sie geheilt und Jana mitgenommen habe, um mit ihr im Himmel zu leben. Die anderen Kinder mochten sie zwar anfangs auslachen, aber es blieb die Tatsache, daß Laxmis quälender Husten verschwunden war; sie atmete jetzt so mühelos und tief wie ein taufrischer Neuankömmling. Ein von der Mine nach Czerebogar verkauftes Kind nahm die Geschichte und die Hoffnung dieser Heilung mit und trug sie weiter.
In der Teppichweberei von Czerebogar, wo die Kinder auf Hängebänken kauerten und Knoten in die berühmten Kezdeter Teppiche knüpften, bis ihnen die Finger bluteten, wurde Laxmis Sita Ram in Lukia aus dem Licht verwandelt. Und man flüsterte sich zu, daß das weiße Horn des Einhorns ein magisch heilendes Licht verströme, welches das Augenlicht von blinzelnden, halbblinden Teppichwebern wiederherstellen könnte. Eine reisende Lehrerin der Kinderarbeitsliga, die sich verkleidet in Czerebogar einschlich, stellte fest, daß diese Legende ihr den Zugang zu den Kindern erleichterte. Sie schlug daher ihren Kollegen vor, daß sie diese Mär als einen Weg weiterverbreiten sollten, um die in den Kindern tief verwurzelte Furcht vor allen Fremden und ihr Mißtrauen diesen gegenüber zu überwinden.
»Sollten wir überhaupt versuchen, diesen Argwohn abzuschwächen?« fragte einer der anderen Teilzeitlehrer. »In den meisten Fällen haben sie ja nur allzu recht, Fremde zu fürchten.«
»Nicht uns«, widersprach die junge Frau, die sich nach Czerebogar hinein- und wieder hinausgeschlichen, Zählspiele und Geschichten hineingebracht und die Legende von Lukia mit hinausgenommen hatte. »Wenn sie Angst vor uns haben, können wir ihnen nicht helfen.«
In der Tondubh-Glashütte wurde die Erzählung zu einem Teil der Legende von Epona, der Pferdegöttin, die erschöpfte Glasläufer auf ihren Rücken setzte und mit dem geschmolzenen Glas vom Brennofen zum Bläser galoppierte, um die entkräfteten Beine der Kinder zu schonen.
Überall auf Kezdet, wo es ein Bergwerk oder eine Fabrik gab, in der Kinder unter beengten, vergifteten, elenden Bedingungen Zwangsarbeit leisten mußten, gab es auch eine Legende über eine Rettung verheißende Göttin, die aus den undeutlichen Erinnerungen der älteren Kinder an die Umarmung ihrer Mütter geboren worden war und der das Verlangen der jüngeren Kinder nach Hoffnung Stärke verliehen hatte. Aber niemals zuvor hatte eine dieser sagenumwobenen Göttinnen die Gestalt einer Sterblichen angenommen und einem kranken Kind handfeste, wahrhaftige Heilung gebracht. All diese Legenden erwachten plötzlich zu neuem Leben; wie ein unterirdischer Strom klaren Wassers, der durch all die finsteren Fabriken floß, blühte Hoffnung auf; die Aufseher wunderten sich, warum die Kinder plötzlich zu singen und zu lachen begonnen hatten, und machten sich Sorgen wegen dieser Veränderung.
Die Nachwirkungen von Acornas Abenteuer waren verhaltener, als Pal befürchtet hatte. Judit war sogar ehrlich erleichtert, daß Jana ihr die Betreuung von Chiura abnahm, die
Weitere Kostenlose Bücher