Das Einhornmädchen Vom Anderen Stern
Rafik Gill beim Ellbogen nahm. »Nicht unterbrechen, mein Freund«, tadelte er. »Wir sind alle höchst interessiert an Acornas Beurteilung durch unsere Frau Doktor hier, nicht wahr?«
»Den Größen- und Gewichts-Normtabellen zufolge ist sie eine leidlich gutgenährte Sechsjährige«, fuhr Eva daher fort,
»aber beim SIS – Sprach-Interaktions-Standardtest – hat sie nur eine niedrige Zwei erzielt.«
»Meiner eigenen Einschätzung zufolge«, entgegnete Gill,
»war sie ein Kleinkind, als wir sie fanden, und das ist weniger als zwei Jahre her. Sie kann also nicht mehr als drei oder vier Jahre alt sein.«
»Und ihr Sprachverständnis ist ausgezeichnet«, ergänzte Calum.
»Falls sie in punkto Sprachausdruck ein wenig hinterherhinkt, dann liegt das wahrscheinlich daran, daß ihr Gehirn nicht für die menschliche Sprache verdrahtet ist; sie muß sie also analytisch lernen, nicht instinktiv, wie es ein menschliches Kind tun würde.«
»Wie ich erfreut feststelle, geben Sie selbst zu, daß sie Gehirnprobleme hat«, warf Eva rasch ein.
»Unterschiede«, verbesserte Calum, »nicht Probleme.«
Eva beschäftigte sich einen Augenblick lang mit ihrer Schreibtischkonsole. »Angesichts der Schwere ihrer sprachlichen Zurückgebliebenheit haben wir sie als nächstes dem Colquhoun-Farbzuordnungstest unterzogen, der natürlich für weitaus jüngere Kinder gedacht ist. Sie zeigte eine auffällige Unbeholfenheit bei der Bedienung des Cursors – «
»Ihre Finger haben ein Gelenk weniger als wir«, gab Rafik zu bedenken. »Selbstverständlich hat sie dadurch Schwierigkeiten mit für menschliche Hände entworfenen Gerätschaften. Was wollten Sie eigentlich testen, ihre Intelligenz oder manuelle Geschicklichkeit?«
»Es ist eine längst bekannte Tatsache, daß beides miteinander verknüpft ist«, gab Eva barsch zurück. »Jeder Narr weiß, daß ein Kind nicht imstande ist, Lesen oder Rechnen zu lernen, bevor es auf einem Bein eine gerade Linie entlanghüpfen kann; das ist einer der Standardtests zur Kinderhort-Reifeprüfung.«
»Freilich, ich bin überzeugt, daß das eines der Dinge ist, die jeder Narr weiß«, gab Gill ihr mit einer scharfen Ironie recht, die Eva entging. »Haben Sie ihre Intelligenz überhaupt getestet?«
»Haben Sie sie aufgefordert, ein einfaches Programm zur Carbonylreduktion zu schreiben?«
»Oder die Konzentration von Metallen der Platingruppe im Regolith eines E-Typ-Chondriten zu berechnen?«
»Machen Sie sich nicht lächerlich!« fuhr Eva sie an. »Selbst wenn das Kind derartige Aufgaben vollbringen könnte, muß sie das durch reine Nachahmung gelernt haben. Derart ihrem Alter in höchstem Maße unangemessene Dinge zu tun ist ein weiteres Zeichen für die soziale Entfremdung, die wir heilen werden, sobald man ihre Mißbildungen korrigiert hat. Wenn sie sich zu einer anpassungsfähigen Persönlichkeit entwickeln soll, muß ihre Erziehung Experten anvertraut werden, die sich darauf verstehen, wie man ihr hilft, ihre Behinderungen zu kompensieren, ohne übertriebene Leistungsanforderungen an sie zu stellen.«
»Und was genau hatten Sie im Sinn?« erkundigte sich Rafik höflich.
»Nun, ich – sie muß natürlich zuerst noch gründlicher untersucht werden –, aber ich sehe keinen Grund, warum sie nicht lernfähig genug sein sollte, um in geschützter Arbeitsumgebung eine Position mit geringer Verantwortung auszufüllen.«
»Also in der Firmenkantine Tabletts stapeln«, schlußfolgerte Gill.
»Oder Leintücher falten«, schlug Calum vor.
Eva errötete. »Ich kann keine Wunder bewirken«, fuhr sie auf. »Sie haben mir ein mißgebildetes, zurückgebliebenes Kind gebracht, das bereits an den Folgen von fast zwei in einer sozial entfremdenden Umgebung verbrachten Jahren leidet.«
»Ich meinerseits würde nicht so vorschnell annehmen, daß das Kind zurückgeblieben ist«, widersprach Calum. »Wenn Sie Ihr Augenmerk einmal lang genug von den psychologischen Tests lösen würden, um zu erkennen, daß sie nicht menschlich ist – wofür Ihnen jeder kompetente Biologe den Beweis liefern könnte –, werden Sie womöglich zu verstehen beginnen, daß Unterschiede nicht das gleiche wie Störungen sind. Und ja, sie hat ein paar Probleme mit der Sprache und dem Handhaben von für Menschen entwickelten Utensilien. Na und? In jedem anderen Gebiet, Dr. Glatt, ist der Experte derjenige, der sich darauf versteht, Probleme zu lösen, und nicht derjenige, der jammert, daß sie unlösbar seien.«
Ein
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