Das Einhornmädchen Vom Anderen Stern
kniete über einer unheilvoll regungslosen Gestalt. Der Schock des Überfalls ließ momentartige Alptraumbilder durch Gills Gehirn blitzen.
Rafik bewegte sich nicht; er hätte vor Schmerzen schreien müssen – sein halbes Gesicht war verbrannt. Acorna nestelte an ihrem Turban. Sollte das zulassen. Sie mußte bedeckt bleiben. Arzt! Sie brauchten einen Arzt! Irgendein Idiot brabbelte etwas davon, dem Attentäter nachzujagen. Wen kümmerte das? Rafik war alles, was zählte.
Acorna beugte sich über Rafik, ihr Horn jetzt freigelegt, ihre Augen dunkle Tümpel, mit zu fast unsichtbaren Silberschlitzen verengten Pupillen. Sie – stupste – ihn mit dem Horn an. Es war herzzerreißend mit anzusehen; ein Kind, das ein Elternteil beweinte. Gill dachte betäubt, daß er sie fortbringen müßte.
Sollte sie unbeobachtet trauern dürfen. Man sollte sie verstecken, bevor zu viele Leute das Horn bemerkten. Aber sich zu bewegen fühlte sich an, wie durch zähflüssiges Wasser zu schwimmen, als ob die Zeit selbst sich um sie herum verlangsamt hätte, und als er Acorna und Rafik erreichte, packte Calum seine Schulter und hielt ihn zurück.
»Warte«, sagte er. »Sie kann Wasser und Luft reinigen und Gift entdecken. Vielleicht kann sie auch Laserwunden heilen.«
Noch während sie zuschauten, wurde das verkohlte Gewebe auf Rafiks Gesicht bereits überall dort, wo Acornas Horn es berührte, durch glatte neue Haut ersetzt. Sie verweilte mit ihrem Horn einen Atemzug lang genau über seinem Herzen, wie um seinen im Schock befindlichen Kreislauf und seine Lungen dazu zu bewegen, weiterzuzirkulieren und weiter zuatmen. Dann rührte er sich und öffnete seine Augen und sagte gereizt: »Was im Namen von zehntausend syphilitischen Dämoninnen ist passiert?«
Calum und Gill versuchten es ihm gleichzeitig zu berichten.
Dann kamen die Gäste an den ihnen nächstgelegenen Tischen herüber, jetzt, wo es ungefährlich zu sein schien, sich zu nähern, um ihre Eindrücke von dem Mordanschlag beizutragen. Jene weiter weg verlangten natürlich auch zu wissen, was geschehen war. Als sie aber außer umgeworfenen Stühlen und auf dem Fußboden verteilten Speisen keinen sichtbaren Schaden ausmachen konnten, kehrten sie zu ihren Tischen zurück, um ihr unterbrochenes Mahl wieder aufzunehmen. Calum gelang es, den Turban wieder auf Acornas Hinterkopf zu setzen, und Rafik zog ihn über ihr Horn. Dann mußten er und Gill den Umstehenden erklären, daß nein, Rafik nicht getroffen worden war. Nein, der Laserstrahl hatte ihn nicht einmal gestreift.
Am Ende stimmten alle darin überein, daß ein Attentäter auf Rafik gefeuert hatte und daß die junge Dame glücklicherweise rasch genug reagiert hatte, um ihn zu retten, indem sie ihn aus seinem Stuhl herausriß, so daß er nicht einmal von einem Beinahetreffer versengt wurde. Eine kleine, lautstarke Gruppe wollte ihre Ansicht diskutieren, daß der Möchtegernattentäter Rafik bemerkenswert ähnlich gesehen hatte. Gill und Calum ließen die Geschichte eines wundersam knappen Fehlschusses gelten und rieten von Plänen ab, Rafiks Angreifer, der seinem Verfolger entkommen war, zu jagen und zur Strecke zu bringen; alles was sie wollten, war, auf der Stelle zur Uhuru zurückzukehren. Sie hatten an diesem Abend schon viel zuviel Aufmerksamkeit auf sich gezogen!
Sechs
Delszaki Li und Judit Kendoro beendeten gerade ihr Abendmahl, als das Komgerät des Speisesaals in jenem ansteigenden Arpeggio piepte, welches bedeutete, daß eine zerhackte Nachricht empfangen worden war.
»Das wird sein Pal«, meinte Li. Er drückte auf einen Knopf in der linken Lehne seines Schwebestuhls, und die Sequenz abgehackter, kreischender Geräusche, aus denen die verschlüsselte Botschaft bestand, wurde hörbar. Nach einem Augenblick Stille surrte das Entschlüsselungsmodul des Komgeräts geschäftig, und die ursprüngliche Nachricht wurde abgespielt, wobei Pals Stimme aufgrund der Beschränkungen des Verschlüsselungsverfahrens ein wenig verzerrt und metallisch klang.
»Es sind vier Besatzungsmitglieder auf der Uhuru, nicht drei.
Keiner von ihnen ist Sauvignon. Sie haben Feinde; einer der Mannschaft war heute abend das Ziel eines Attentatsversuchs in einem vornehmen Restaurant. Es wird zwar übereinstimmend die Ansicht vertreten, daß der Attentäter sein Ziel verfehlt habe. Aber ich habe ganz in der Nähe gesessen, um zu versuchen, ihre Unterhaltung mitzuhören, und ich glaube, daß es ganz anders war – und äußerst interessant.
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