Das Einhornmädchen Vom Anderen Stern
angehörte, daß sie vielleicht niemals selbst Kinder haben würde, wenn sie es nicht schafften, ihre Heimat ausfindig zu machen, oder daß diese Kinder sich äußerlich erheblich von dem hungernden Bettlerkind unterscheiden würden, das sie auf den Straßen von Ost-Celtalan aufgelesen hatte. Das Band der Liebe war dennoch da.
»Aber wie konnte man sie einfach im Stich lassen und dem Hungertod preisgeben?« Acorna strich dem Kind sanft die struppigen Locken aus der rechten Seite seines Gesichts. Auf der linken Seite seines Kopfes war das Haar auf grobe Weise abgeschnitten worden. »Zu irgend jemanden muß sie doch gehören.«
»Ich glaube nicht, daß man sie ausgesetzt hat«, entgegnete Pal. »Sie ist ein wunderschönes Kind. So wie man ihr das Haar abgehackt hat, macht es den Anschein, als ob jemand versucht hätte, sie häßlich aussehen zu lassen. Wahrscheinlich half die gleiche Person ihr, zu fliehen.«
»Was ist falsch an Schönheit? Und wovor sollte sie wegrennen?« Pal seufzte und machte sich darauf gefaßt, Delszaki Lis Vortrag über das Kezdeter System der Kinderarbeit, Schuldknechtschaft, »Rekrutierung« und unverhohlener Entführung zu wiederholen. Was Li Acorna und den Schürfern erzählt hatte, war wahrscheinlich zuviel für Acorna gewesen, um alles auf einmal begreifen zu können.
Calum geriet zwar ins Schwärmen über die Geschwindigkeit, mit der Acorna mathematische und astronautische Theorien verinnerlichte, aber emotionale Sachverhalte zu lernen war etwas ganz anderes.
»Es gibt viele Kinder auf Kezdet, die niemanden haben, der auf sie aufpaßt«, begann er. »Einige sind Waisen, andere unerwünschte Kinder von anderen Planeten, die hierhergebracht wurden, um in Bergwerken und Fabriken zu arbeiten, manche werden ihren Eltern abgekauft, um die gleiche Arbeit zu tun. Wenn sie nicht arbeiten, ist ihre einzige Alternative, auf der Straße zu verhungern.« Er runzelte die Stirn. »Sie sieht allerdings eigentlich zu jung aus, um fortgelaufen zu sein. Meist sind es nämlich erst die älteren Kinder, die den Mumm haben zu fliehen, und genug Verstand, sich dazu irgendeine Art Plan auszudenken. Vielleicht können wir mehr über sie herausfinden, wenn sie aufwacht, zumindest eine Vorstellung davon bekommen, in welcher Arbeitsstätte sie war.«
»Nicht, um sie zurückzuschicken!« protestierte Acorna und legte beschützend einen Arm um das kleine Mädchen.
»Nein. Wir werden sie nicht zurückschicken. Und falls…«
Pal war im Begriff zu sagen gewesen, daß, falls die Schuldknechtschaft-Kontraktinhaber des Mädchens ihm auf die Spur kämen, Delszaki Li ihm fraglos die Freiheit erkaufen würde. Aber er beschloß, diese Möglichkeit in Anbetracht von Acornas leidenschaftlichen Beschützerinstinkten noch nicht einmal zu erwähnen.
»Falls was?«
»Falls wir ihren Namen herausfinden können«, improvisierte Pal, »könnte sie Eltern haben, die nach ihr suchen.« Persönlich bezweifelte er es; die meisten Kinder, die in Kezdets Sklavenarbeitssystem endeten, taten dies aus eben dem Grund, weil sie so verzweifelt arme Eltern hatten, daß diesen keine andere Wahl blieb, als ihre Kinder zu verkaufen, aber er erkannte, daß er die Situation des Kindes um Acornas willen im bestmöglichen Licht darzustellen wünschte.
Acornas Pupillen verengten sich zunächst zu Schlitzen, dann aber holte sie tief Luft und weitete sie willentlich wieder.
»Ja«, meinte sie traurig, »alle verlorenen Kinder möchten gerne glauben, daß ihre Eltern nach ihnen suchen. Wenn dieses hier nicht zu weit fortgereist ist, können ihre Leute vielleicht gefunden werden.«
Pal hätte sich für seine tölpelhaften Worte selbst treten können. Wie konnte er nur vergessen haben, selbst für einen einzigen Augenblick, daß auch Acorna ein Findelkind gewesen war, und eines, das nicht einmal wußte, wo ihre Rasse gefunden werden konnte, ganz zu schweigen von ihren Eltern.
Kein Wunder, daß sie sich so spontan und beschützend mit dieser kleinen Jammergestalt identifizierte. Er stammelte, versuchte ein paar Worte der Entschuldigung zu finden, die Acornas Pein nicht verschlimmern würden, und wurde vom plötzlichen Erwachen des heimatlosen Mädchens gerettet.
»Mama!« klagte es und schob Acorna von sich fort, als diese versuchte, es in ihren Armen zu wiegen. »Mama Jana. Chiura will Mama Jana.«
»Da, siehst du«, freute sich Pal, nahm das sich heftig sträubende Kind hoch und trug es in Richtung des Badezimmers, bevor Acorna recht bewußt
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