Das Ende der Nacht: Horror-Roman
hoch.“
Michelle sah zu Christina, die denselben verwirrten Blick trug. Langsam stiegen sie weiter hinunter, bis sie einen kleinen, blonden Jungen erblickten, der vor Stevens Leiche saß und mit sich selbst sprach. Als sie näher bei ihm waren, verstummte er und hob den Kopf.
„Hallo“, grüßte er freundlich.
„Hallo“, gab Michelle kurz zurück und schaute abwechselnd zum Jungen und zur Leiche.
„Hallo“, erwiderte auch Christina, „Was machst du hier?“
„Mir war langweilig im Auto.“
Und da bist du durch das Kellerfenster gestiegen?, wollte Michelle gerade fragen, als Xavers Kopf und Oberkörper darin erschienen. Michelle erstarrte und flüsterte leise „Scheiße“. Xaver schaute auf Stevens Leiche, dann auf Kevin.
„Hier bist du, Kevin. Was machst du hier?“
„Ihm war langweilig im Auto“, sagte Christina.
Xaver versuchte, sich durch das Fenster zu pressen. Angestrengt schaute er zu seiner Nichte. Sein Gesicht wurde rot.
„Okay, Tini“, keuchte er, „ich denke, dass wir mal reden müssen. Aber ich komme durch die Haustür. Hier geht das nicht.“
„Verstehe.“
Michelle dachte an ein Gefängnis, an ein Gefängnis und ihre Zelle darin, die sie mit einer Zweihundert Kilo schweren Frau zu teilen hatte, die sie Tag ein, Tag aus dazu zwingen würde, ihre fetten Beine um den Hals zu legen, während Michelles Zunge in der geschwollenen Haut nach der Fotze suchen musste, um sie zu lecken. Stinkend, dreckig, behaart. Michelle schüttelte den Kopf und dachte: Dann musst du ihn halt töten, habe ich doch gesagt. Und wenn Christina nicht mitmacht, na, du weißt schon! Aber es war nicht ihr Gedanke, nein, das waren alles nicht ihre Gedanken.
„Wir gehen hoch und machen dir die Tür auf“, sagte Christina.
„Und nehmt den Jungen mit. Er soll nicht noch einmal weglaufen.“
„Okay.“
Michelle ging zum Jungen und reichte ihm die Hand. Xaver war aus dem Fenster verschwunden.
„Komm mit, Kevin, wir gehen nach oben“, forderte sie ihn auf. Als Kevin ihre Hand nahm, verstummten die Gedanken. Als hätte etwas ihren Aus-Schalter gefunden. Sie fühlte sich wieder normal. Wenn es normal war, an Leichen vorbei zu gehen, ohne an sie zu denken. Sie lächelte den Jungen an und er lächelte zurück.
Im Flur angekommen, öffneten sie Xaver die Tür.
IV
Er sah das Blut im Flur, die Tropfen und Pfützen in Wohnzimmer und Küche. Die Blessuren in Michelles Gesicht und dass die Kleidung der beiden Mädchen rot gefärbt war. Er sah auch die zweite Leiche und die umgestoßenen Bierdosen, das Popcorn auf dem Boden und den Fernseher, dessen Bildschirm eingedrückt und zersplittert war. Ein Kampf hatte stattgefunden. Die einzige Erklärung für dieses Szenario.
Warum neigten so viele Menschen an diesem Abend zu aggressivem Verhalten? Als würden sie nicht anders können.
„Ich bin müde.“
Niemand hatte auf Kevin geachtet. Sie waren gleich nach Xavers routinierter Hausdurchsuchung zu viert in das Wohnzimmer gegangen und hatten sich wortlos auf das Sofa gesetzt. Kevin lag auf dem Sessel und schien jetzt kurz vorm Einschlafen.
„Dann schlaf' doch ein bisschen. Wir müssen sowieso Dinge bereden, die nichts für dich sind. Wenn ich weiter will, wecke ich dich auf“, sagte Xaver ruhig. Als wäre Kevin mein Sohn, dachte er. Aber was war mit seinem Baby? Würde es je davon erfahren, wie sein Vater seine Mutter im Kindbett umgebracht hatte?
Hatte er?
Habe ich?
„Xaver?“, hörte er eine Stimme aus dem Dunkel flüstern. Wo auch immer er gerade gewesen war, nicht hier, nicht jetzt. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen und schaute zu Kevin.
„Der hat schon vor ein paar Minuten seine Augen zugemacht“, sagte Michelle neben ihm. Xaver drehte sich zu ihr, schaute ihr direkt in die Augen. Keine Reue sah er darin, oder Angst oder Wut, irgendeine Reaktion, die ihm bestätigt hätte, in was für einer verdammten Situation sie da steckten. Michelle blickte, als würden sie sich über die aktuellen Meldungen aus der Presse unterhalten. Unbeteiligt.
„Was ist mit Ihnen?“, fragte sie.
„Ich habe nur nachgedacht“, sagte er. Dann richtete er seinen Oberkörper auf und streckte sich. Ja, seine Entscheidung stand fest. Er würde den Mädchen nichts von seinen Taten erzählen. Nichts erzählen können , dachte er. Keiner kann das ertragen, nicht diese Geschichte.
„Also, ihr beiden“, sagte er stattdessen, „dann erzählt mal, warum ihr diese Kerle umgebracht habt. Ich bin von der Kripo.
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