Das Ende der Welt (German Edition)
sah uns an, in seinen Augen glitzerten Tränen. »Ich behandele euch wie meine eigenen Kinder. Und ihr bescheißt mich, wo ihr nur könnt.« Der Zar schlug donnernd mit der Faust auf den Tisch, so dass ihm die Perücke in die Augen rutschte.
»Ich wusste nicht …«, begann ich. Der Zar schob die Perücke hoch, brachte mich mit einer Handbewegung zum Schweigen und winkte einem seiner Schergen, der ihm ein Taschentuch reichte, das der Zar sorgfältig auseinanderfaltete, um sich die Augenwinkel trocken zu tupfen.
»Das ist also der Dank!«
Ich hielt es für klüger, den Mund zu halten.
»Soll ich euch die Zungen rausschneiden?«
Der Zar lachte, seine Schergen lachten mit, als hätte er einen guten Witz gemacht.
»Mein Hund mag Zunge«, sagte er und lachte wieder. Die Dogge, bei ihrer Erwähnung aufmerksam geworden, sah uns erwartungsvoll an. Wahrscheinlich freute sie sich schon auf den Leckerbissen.
»Nun, nun, was mache ich jetzt mit euch?«, fragte der Zar und legte den Kopf schief.
»Wir gehen jetzt, und in Zukunft essen wir alles auf«, schlug ich vor und zog Leela zur Tür.
»Hiergeblieben!«, brüllte der Zar und schlug wieder auf den Tisch, dass alle im Raum erstarrten. Selbst die Dogge war vor Angst wie festgefroren.
»Ihr bekommt von mir einen Beweis, dass ich nicht nachtragend bin«, flötete der Zar mit honigsüßer Stimme.
»Sie bekommen eine spezielle Behandlung«, sagte er an seine Leute gewandt und winkte ihnen, uns abzuführen. Sie brachten uns zu einem kleinen Platz neben den Latrinen. In die Erde waren metallene Rohre eingegraben, etwa einen Meter tief und breit genug, um einen Menschen zu fassen. Sie hatten Deckel mit einem kreisrunden Loch in der Mitte. Ich wusste, was uns bevorstand. Die Wachen fesselten uns die Hände auf den Rücken und pressten uns dann jeden in eine Röhre, wie Patronen ins Magazin. Dann schlossen sie die Deckel. So hockten wir auf den Knien, nur noch unsere Köpfe sahen raus.
»In der Gegend gibt es gefräßige Ameisen«, lachte einer der Wächter.
»Aber vielleicht sind sie ja solche Feinschmecker wie ihr und lassen euch links liegen«, sagte ein anderer. Lachend verschwanden sie.
Direkt neben uns waren die Latrinen und wehten Gestank herüber. »Ich falle gleich in Ohnmacht«, rief Leela.
Ein zahnloser Alter kreuzte auf, umrundete uns mehrmals und rief dabei unentwegt: »Ojeoje!«
Da wir in der engen Röhre unsere Position nicht verändern konnten, tat uns bald alles weh. Zudem starben uns langsam die Beine ab, weil wir die ganze Zeit knien mussten. Dann setzte der Durst ein und wurde immer unerträglicher. »Wasser!«, baten wir die Vorübergehenden, doch sie beachteten uns nicht. Einer zeigte stumm auf ein Schild: Das Sprechen mit den Gefangenen ist verboten!
»Ich kann nicht mehr«, flüsterte Leela kraftlos. »Wie lange müssen wir hier drinstecken?«
»Sie haben jemanden schon mal zwei Wochen im Loch gelassen«, flüsterte eine Frau, die mit einer Rolle Klopapier in der Hand zu den Latrinen eilte.
Als die Nacht hereinbrach, kühlte es schlagartig ab. Bald begannen wir zu zittern und mit den Zähnen zu klappern.
Ich sah zu Leela. Sie hatte die Augen geschlossen. Entweder schlief sie oder sie war bewusstlos. Langsam dämmerte ich auch weg, und in meinem Traum hörte ich eine Stimme sagen: »Zwar genießt die Jugend das Vorrecht der Unwissenheit, aber in diesem Falle hätte ich doch eine klitzekleine Spur weiser Voraussicht erwartet.« Etwas wurde mir an den Mund gehalten, dann schmeckte ich Wasser. Als ich ein Auge öffnete, konnte ich Barnabas erkennen, der mich freundlich anlächelte. Nachdem er auch Leela hatte trinken lassen, sagte er: »Der Zar hat sich in seiner unendlichen Güte bereit erklärt, eure Strafe zu verkürzen. Allerdings musste ich meine Bitte mit ein paar Schätzen aus meinem Fundus bekräftigen. Der Zar hat einen ausgefallenen Geschmack, wie ihr sicherlich bereits bemerkt habt.«
Er befreite uns aus den Röhren und schleppte uns, um jeden einen Arm gelegt, zu unserem Verschlag. »In Zukunft«, schärfte uns Barnabas ein, bevor er uns verließ, »achtet auf die Schilder.«
Auf unseren Pritschen fanden wir jeder noch einen Muschnik.
Am nächsten Morgen tat uns alles weh, und wir waren so schwach, dass wir kaum stehen konnten.
Leela schleppte sich zu den Waschräumen. Als sie wiederkam, erzählte sie mir: »Ich habe eine Frau getroffen, die mir erzählt hat, dass es im Lager einen Laden gibt, wo man etwas zu essen kaufen kann.
Weitere Kostenlose Bücher