Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft
legendäre Wirtschaftswissenschaftler Paul Samuelson ein Interview. 40 Mit über 90 Jahren war Samuelson so produktiv wie eh und je und galt als einer der bedeutendsten Ökonomen des letzten halben
Jahrhunderts. Als Gründer und Kodifizierer der neoklassischen Schule stieß er die Entwicklung ausgeklügelter mathematischer
Modelle an, mit der die Zunft vermeintlich zeitlose wirtschaftliche Phänomene beschreiben wollte. Auf die unschuldige Frage
»Was würden Sie jemandem, der heute mit dem Wirtschaftsstudium beginnt, mit auf den Weg geben?« gab Samuelson dem Journalisten
eine überraschende Antwort: »Vermutlich sage ich heute etwas anderes als in jüngeren Jahren. Habe einen gesunden Respekt vor
dem Studium der Wirtschaftsgeschichte, denn sie ist das Rohmaterial, aus dem deine Hypothesen und Überprüfungen stammen.«
Die Wirtschaftsgeschichte ist in der Tat ein entscheidendes Gebiet und sehr viel wichtiger, als Theorien von der Effizienz
des Marktes und des rationalen Anlegers uns gern glauben machen. Nicht, weil sich die Geschichte in einem einfachen, zyklischen
Sinne wiederholen würde, obwohl es natürlich zahllose Parallelen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart gibt. Die Geschichte
ist vielmehr deshalb wichtig, weil sie das »Rohmaterial« liefert, das in Wirtschaftstheorien eingeht und diesen eine bestimmte
Richtung gibt. Außerdem verleiht sie den eleganten mathematischen Modellen, wie sie Samuelson und seine Kollegen entwickelt
haben, ein gehöriges Maß an nicht immer eleganten, aber lebensechten Details. Das kann nicht schaden, denn der bedingungslose
Glaube an Modelle war einer der Gründe für die Krise und verhinderte, dass Händler und andere Akteure die sehr realen Risiken
erkannten, die sie im Laufe der Jahre angehäuft hatten. Die Geschichte macht bescheiden, und diese Eigenschaft ist bei der
Beurteilung von Krisen sehr nützlich, denn diese folgen so oft der Behauptung auf dem Fuß, die alten Regeln der Wirtschaft
gälten nicht mehr.
|89| Wir sind nicht die Ersten, die in der Geschichte nach Antworten suchen. Seit es Krisen gibt, wurde der Versuch unternommen,
sie historisch einzuordnen. Den Anfang machten dilettantische Versuche wie die des schottischen Journalisten Charles Mackay,
dessen Buch
Zeichen und Wunder: Aus den Annalen des Wahns
im Jahr 1841 erschien. 41 Obwohl Mackay sich nur am Rande für die Wirtschaft interessiert und es mit den Tatsachen nicht immer ganz genau nimmt, ist
er womöglich der Erste, der versucht, aus vergangenen Wirtschaftskrisen zu lernen. Mit seiner Schlussfolgerung – dass wir
Menschen irrational sind und uns gern dem Überschwang und der Euphorie hingeben – nahm er sowohl die Verhaltensökonomik als
auch spätere historische Untersuchungen der Krise vorweg.
Etliche Historiker und Wirtschaftswissenschaftler traten in die Fußstapfen von Mackay, doch erst Charles P. Kindleberger versuchte
sich 1978 an einer umfassenden historischen Theorie der Krise. Sein Buch
Manien, Paniken, Crashs
wurde zum Klassiker, und auch wenn seine Schlussfolgerungen in den Jahren vor der Krise in Vergessenheit geraten waren, ist
unsere Denkweise stark von seinem Geist beeinflusst. Das gilt ebenso für die systematischen und streng methodischen Arbeiten
von Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff. In
This Time Is Different: Eight Centuries of Financial Folly
(2009) haben diese beiden Wissenschaftler eine gewaltige historische Sammlung mit Daten zu den Wirtschaftskrisen angelegt
und zeigen darin etwas Wichtiges auf: Die Krisen, Paniken und Pleiten können sich zwar im Detail unterscheiden, doch die wesentlichen
Elemente haben sich über die Jahrzehnte und Jahrhunderte kaum verändert.
Diese und die Arbeiten anderer Wirtschaftshistoriker eröffnen ein neues Verständnis der tieferen Ursachen von Krisen und ihren
Nachwirkungen. Die Geschichte zeigt uns, dass wir Krisen am besten verstehen, wenn wir sie als Teil eines größeren Kontinuums
aus Ursachen und Wirkungen begreifen, das lange vor dem Beginn der eigentlichen Krise einsetzt und sie lange überdauert. In
diesem Sinne wollen wir nun einige der strukturellen Kräfte aufspüren, die eine Krise schon seit vielen Jahren vorbereitet
haben.
|90| Kapitel 3
Plattentektonik
Der Verlauf der Finanzkrise wird gern in einer inzwischen vertrauten Geschichte dargestellt: In den Vereinigten Staaten entwickelte
sich eine Immobilienblase, die um das Jahr 2005 oder 2006 außer Kontrolle
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