Das Erbe der Azteken

»War das …«
    »Ich glaube nicht.« Er atmete tief durch und blies pfeifend die Luft aus. »Aber mein Herz klopft trotzdem wie verrückt. Komm weiter.«
    Sie kehrten in die Kammer zurück und wagten sich vor, bis ihre Lampen das Objekt, das sich nicht vom Fleck gerührt hatte, wieder erfassten.
    »Sieht wie ein verfaulter Telegrafenmast aus«, sagte Remi.
    Der Vergleich passte durchaus. Aber Sam bemerkte sofort drei hölzerne Querbalken, die mit irgendwelchen Bändern an dem Mast befestigt waren. Diese Bänder waren zwar teilweise schon zu Staub zerfallen, aber doch noch so gut erhalten, dass man ihre ursprüngliche Form erkennen konnte.
    »Das ist ein Ausleger«, flüsterte Remi.
    Sam nickte und ließ den Lichtstrahl seiner Stirnlampe über die Querbalken bis zu der Stelle wandern, wo sie mit einem länglichen Bündel teilweise verrotteten Holzes verschmolzen, das ein gutes Stück länger war als der Telegrafenmast und vier bis fünf Mal so dick.
    »Sam, das ist ein Kanu!«
    Er nickte. »Ein großes sogar. Mindestens zehn Meter lang.« Sie gingen um das Boot herum auf die andere Seite, wo sie die gleiche Auslegerkonstruktion vorfanden. Der Schwimmkörper des Kanus war anderthalb Meter breit und vom Kiel bis zum Dollbord einen Meter zwanzig hoch. Es hatte einen spitz zulaufenden Bug und einen weit vorragenden Bugspriet sowie ein kantig abgeflachtes Heck. Mittschiffs ragte allem Anschein nach der untere Teil eines abgebrochenen Mastes gut zwei Meter in die Höhe; sein oberes Teilstück, etwas mehr als drei Meter lang, lag auf dem Boden und mit einem Ende auf dem Bootsrand. Vor dem Mast befand sich auf dem Bootskörper ein niedriges Satteldach.
    »Sam, geh mal ein Stück zurück«, flüsterte Remi.
    Er folgte ihr. Sie deutete auf den Boden unter dem Boot. Was sie anfangs lediglich für eine simple Unebenheit gehalten hatten, war in Wirklichkeit ein Podest aus sorgfältig angeordneten Steinen, gut einen halben Meter hoch.
    »Das ist ein Altar«, sagte Sam.

    Nach einer kurzen Kontrolle ihrer Anti-Krokodil-Fackel, die etwa zur Hälfte abgebrannt war, führten sie eine eingehende Inspektion des Auslegerbootes durch, wobei Remi seine Größe und sein Design mit ein paar Totalaufnahmen festhielt, ehe sie ihrem Fund mit Nahaufnahmen zu Leibe rückte. Sam verschaffte sich mit Hilfe seines Schweizer Messers ein paar Proben vom Holz und den Bänderresten, die den Ausleger zusammenhielten.
    »Alles ist mit einer Art Baumharz bedeckt«, sagte er zu Remi und roch an dem Material. »Die Schicht ist ziemlich dick. Mindestens zwei Zentimeter.«
    »Das erklärt seinen erstaunlich guten Zustand«, erwiderte sie.
    Sam stieg über den Ausleger auf der Steuerbordseite, ging zum Bootskörper und blickte über den Rand ins Innere. Am Fuß des Mastes lag ein großer Haufen eines Materials, das er als verfaultes Segeltuch identifizierte. Braun und grau gescheckt, hatte sich der Stoff stellenweise in eine gallertartige Masse verwandelt.
    »Remi, das musst du dir ansehen.«
    Sie trat neben ihn an den Bootsrand. »Ein großes Segel«, sagte sie und schoss weitere Fotos.
    Sam zog die Machete aus der Scheide, beugte sich vor und stocherte mit der Klinge in dem Stoffbündel, während Remi ihn von hinten am Gürtel festhielt, damit er nicht ins Boot fiel. »Wie Zwiebelschalen«, murmelte er und löste eine zerfranste Probe von dem Material. Remi hielt bereits einen Ziploc-Plastikbeutel bereit. Während er die Probe behutsam hineingleiten ließ, zerbrach sie in drei Teile. Remi verschloss den Beutel und kehrte zu ihrem Rucksack zurück, um den Beutel zu den anderen Proben zu packen.
    Sam ging weiter zum Heck. Vom Spiegel ragte ein rundliches hölzernes Objekt hoch. Es sah wie ein verschrumpelter Football aus, der auf einem Kickoff-Tee zum Anstoß bereitlag. Wie bei allem anderen, das zu diesem Boot gehörte, brauchte Sam mehrere Sekunden und verschiedene Blickwinkel, ehe er erkannte, was er da vor sich hatte. Remi kam zu ihm.
    »Unser geheimnisvoller Vogel«, sagte sie.
    Sam nickte. »Aus dem Orizaga-Kodex und aus Blaylocks Tagebuch.«
    »Wie hat er ihn genannt? Der ›große grüne mit Diamanten besetzte Vogel‹«, sagte Remi nachdenklich. »Obwohl ich nicht glaube, dass er diesen hier gemeint hat.«
    Sie machte mit ihrer Digitalkamera ein Dutzend Bilder von der Holzschnitzerei.
    »Sehen wir uns mal den Bugspriet an«, sagte Sam. »Bei Schiffen und Booten findet man solche Dinge paarweise.«
    Sie gingen zum Bug. Wie Sam schon vermutet hatte,