Das Erbe der Azteken
während Sam, Remi und Selma diesem neuen Pergament zu Leibe rückten.
Remi begann. »Kodex ist zwar das lateinische Wort für Holzklotz, aber im Laufe der Zeit wurde damit jede Art von gebundenem Buch oder Pergament bezeichnet. Man kann es als Modell für die moderne Buchherstellung betrachten, aber ehe es üblich wurde, Bücher zu binden, konnte so gut wie alles als Kodex bezeichnet werden – sogar ein einzelnes Stück Pergament oder mehrere, die zusammengefaltet wurden.
Seht ihr, als die Spanier im Jahr 1519 in Mexiko einfielen …«
Sam unterbrach sie. »Meinst du, jetzt wäre der richtige Zeitpunkt für einen Einführungskurs in aztekischer Geschichte?«
»Okay. Merkt euch nur, dass in wissenschaftlichen Kreisen sehr kontrovers über die Azteken diskutiert wird, und zwar auf trivialem wie auch hochwissenschaftlichem Level. Ich liefere euch die mittlere – gängige – Version.
Azteken – das ist der populäre Name einer Gruppe von Nahua sprechenden Stämmen, die einige Historiker als Mexica – gesprochen Me-SCHII-ka – bezeichnen und die im sechsten Jahrhundert von irgendwoher aus dem Norden kommend nach Zentralmexiko eingewandert sind.«
»Von irgendwoher aus dem Norden ist aber ziemlich vage«, stellte Selma fest.
Remi nickte. »Das ist ein weiterer Auslöser für eine Kontroverse. Ich komme gleich darauf zurück. Die Azteken wanderten weiter in das Tal von Mexiko, verdrängten andere Stämme oder nahmen sie in ihre Mitte auf und absorbierten sie – teilweise mitsamt ihrer Mythologie und ihren kulturellen Praktiken. Dieser Prozess dauerte bis zum zwölften Jahrhundert an. Zu dieser Zeit konzentrierte sich die Macht in dieser Region vorwiegend in den Händen der Tepaneken in Azcapotzalco. In Kürze: Die Macht wechselt, Bündnisse werden geschlossen und gebrochen, und die Azteken stehen auf der Macht- und Einflussleiter ziemlich weit unten.
Aber nur bis 1323, als, wie die Legende berichtet, die Azteken einen Adler beobachteten, der auf einem Feigenkaktus saß und eine Schlange im Schnabel hatte. Nach einigen weiteren Jahren auf Wanderschaft stoßen die Azteken auf eine sumpfige, kaum bewohnbare Insel mitten im Texcoco-See – der mittlerweile verschwunden ist und sich unter Mexiko-Stadt befindet. Auf dieser Insel beobachten sie den Adler mit der Schlange. Sie brechen ihre Wanderung ab und beginnen mit dem Aufbau einer Stadt. Sie nennen sie Tenochtitlán.
Obgleich ihre neue Hauptstadt mehr auf Sumpf als auf festem Untergrund stand, gelang den Azteken eine technische Meisterleistung. Tenochtitlán nahm auf der Westseite des Texcoco-Sees etwa zwölf Quadratkilometer ein. Sie legten Dämme zum Festland mit Brückenbögen an, um den Schiffsverkehr zu ermöglichen. Sie bauten Aquädukte, um die Stadt mit Trinkwasser zu versorgen. Es gab große Plätze und Paläste, Wohnviertel und Geschäftszentren, alle durch Kanäle miteinander verbunden. Als die Bevölkerung zu zahlreich wurde, um mit den in der Umgebung angebauten landwirtschaftlichen Produkten ausreichend versorgt werden zu können, schufen die aztekischen Ingenieure schwimmende Gärten, chinampas genannt, die bis zu sieben Ernten im Jahr hervorbrachten.
Das ging weitere fünfzig Jahre so bis Ende 1420, als der Dreierbund zwischen Tenochtitlán, Texcoco und Tlacopan geschlossen wurde. Sämtliche Stämme außerhalb dieser Allianz wurden unterworfen, während die Macht der Allianz ständig zunahm. Dann, während der nächsten einhundert Jahre, übernahmen die Azteken und Tenochtitlán nach und nach die Führung.«
»Und dann kam Hernan Cortés«, sagte Sam.
»Richtig. Im Frühjahr 1519. Innerhalb von zwei Jahren war das Reich der Azteken so gut wie vernichtet.«
»Und worüber streitet man sich?«, fragte Selma. »Hinsichtlich der Azteken, meine ich.«
»Woher sie kamen – aus dem Norden oder aus dem Süden oder von einem völlig anderen, weit entfernten Ort. Viele der klassischen und noch älteren Kulturen – die Tolteken, die Maya, die Olmeken – haben gewisse Ähnlichkeiten mit den Azteken. Es geht um die uralte Frage, wer zuerst da war, die Henne oder das Ei. War es nur eine Art kultureller Fremdbestäubung, oder ist eines dieser Völker der Vorläufer aller anderen gewesen? Es gibt zahlreiche Historiker, die die Auffassung vertreten, dass die Azteken die wahren Stammväter Mesoamerikas waren.«
Sam und Selma hörten sich alles aufmerksam an. Dann sagte Sam: »Okay, du hast von Kodices gesprochen …«
»Richtig«, sagte Remi. »Als
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