Das Erbe der Azteken
nicht offensichtlich ist.«
»Das kann ich akzeptieren.«
»Warum machte sich Blaylock dann die Mühe, völlig wahllos aztekische Symbole ins Innere der Glocke zu gravieren? Und warum gerade in die Glocke?«
»Ich vermute, das ist nur eine rhetorische Frage«, antwortete Remi
»Der gehe ich gerade nach. Hast du das Gedicht aus Blaylocks Tagebuch gelesen?«
»Ich wusste gar nicht, dass es eins gab.«
»Ich hab’s jetzt erst gefunden. Pete und Wendy haben es eben hochgeladen«, sagte Sam und rezitierte:
In der Geliebten Herz schreib ich der ew’gen Treue Worte
Auf Engais Gyrare find ich festen Stand
Tief unter mir dreht sich die Erde, teilt meinen Tag
Worte der Ahnen
Worte von Vater Algarismo
»Nicht schlecht für einen Mathematiker«, stellte Remi fest.
»Ich frage mich, ob er die Glocke benutzt hat, weil sie, anders als Papier, dauerhaft ist. Ich frage mich auch, ob er sie auf Grund ihrer Form gewählt hat.«
»Ich kann dir nicht ganz folgen.«
»Die erste Zeile seines Gedichts – ›In der Geliebten Herz schreib ich der ew’gen Treue Worte‹ – er muss seine Frau meinen, Ophelia, nach der er ja auch die El Majidi umbenannt hat.«
Allmählich verstand Remi. »Und eine Schiffsglocke könnte man als das Herz eines Schiffes betrachten.«
»Richtig. Jetzt die zweite Zeile: ›Auf Engais Gyrare find ich festen Stand.‹ Im Swahili ist Engai eine der Schreibweisen für die Massai-Version Gottes, und gyrare ist das lateinische Wort für ›gyre‹. Das ist das Synonym für Wirbel oder Spirale.«
»Wie in Fibonacci-Spirale. Das göttliche Muster in der Natur.«
»So denke ich es mir. Blaylock benutzte die Spirale als eine Art geistige Orientierungshilfe. Wenn man die Zeilen entsprechend interpretiert, hat man am Ende vielleicht Blaylock, wie er die Glocke mit Liebesgeständnissen für das Objekt seiner Verehrung – oder Obsession – beschriftet und dabei vielleicht die Fibonacci-Spirale für eine Art Verschlüsselungstechnik benutzt.«
»Und da zu dem Zeitpunkt, als er die Inschriften hinterließ, seine Frau schon längere Zeit tot war und er die Shenandoah gefunden hatte, ging seine Verehrung längst in eine andere Richtung«, sagte Remi. »Was ist mit dem Gyre? Wie passt das eigentlich dazu?«
»Stell dir eine goldene Spirale vor.«
»Okay.«
»Und jetzt blende sie in das Innere der Glocke ein, so dass sie in der Krone beginnt und nach unten und zur Öffnung hin verläuft.«
Remi nickte. »Und wo immer die Spirale ein Symbol schneidet, heißt das …« Sie zuckte die Achseln. »Was?«
»Keine Ahnung. Vielleicht hat es irgendetwas mit den letzten drei Zeilen des Gedichts zu tun. Daran arbeite ich noch. Alles, was ich weiß, ist, dass die Fibonacci-Spirale und aztekische Symbole am häufigsten im Tagebuch zu finden sind. Falls er irgendetwas verbergen oder verschleiern sollte, haben sie sicherlich etwas damit zu tun.«
Sie standen auf, bereiteten eine Kanne Kaffee und gingen in den Arbeitsraum. Selma lag in einer Nische des Raums auf einer Pritsche und schlief. Die Halogenlampen an der Decke waren abgedunkelt. Pete und Wendy saßen am Arbeitstisch vor ihren Laptops, deren Bildschirme ihre Gesichter erhellten.
»Kaffee?«, fragte Sam flüsternd.
Wendy schüttelte lächelnd den Kopf und deutete mit dem Kinn auf die Ansammlung leerer Red-Bull-Dosen auf dem Tisch.
»Wir sind fast fertig«, sagte Pete. »Diese Ziploc-Beutel sind einfach ideal. Es ist nur eine Vermutung, aber ich würde meinen, dass diese Briefe zu jeder Zeit auf irgendeine Art und Weise geschützt wurden.«
»Haben Sie sie alle bearbeitet?«, fragte Remi.
Wendy nickte. »Abgesehen von vereinzelten unlesbaren Stellen. In zwei Stunden haben wir alles hochgeladen und geordnet.«
»Sam hat eine Idee, der er nachgehen möchte«, sagte Remi.
»Wir sind ganz Ohr«, entgegnete Wendy.
Sam erläuterte seine Theorie. Pete und Wendy ließen sich das Gehörte längere Zeit durch den Kopf gehen, dann nickten sie gleichzeitig. »Klingt plausibel«, sagte Pete.
»Das denke ich auch«, meinte Wendy. »Blaylock war Mathematiker. Und diese Typen suchen immer die Ordnung im Chaos.«
Am anderen Ende des Raums fragte Selmas kratzige Stimme: »Was klingt plausibel?«
»Schlafen Sie weiter«, sagte Remi.
»Zu spät. Jetzt bin ich wach. Also – was klingt plausibel?«
Sie stand von der Pritsche auf und kam zum Arbeitstisch. Remi schenkte Kaffee in eine Tasse und schob sie den Tisch hinunter. Selma nahm sie zwischen beide Hände und trank
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