Das Erbe der Braumeisterin - Thomas, C: Erbe der Braumeisterin
sie den Kopf an seiner Schulter. Er knüpfte sacht ihr wie immer unzureichend befestigtes Gebende auf, dann löste er mit langsamen Bewegungen ihren Zopf und fuhr mit den Fingern durch die lockigen Strähnen.
»Madlen«, murmelte er in ihr Haar. »Ich danke dir.«
»Wofür?«
»Dafür, dass es dich gibt.«
Einen Tag später
Sybilla beugte sich über Blithildis und half ihr auf. »Du solltest besser noch eine Weile liegen bleiben. Die letzten Tage haben dich all deine Kraft gekostet.«
»Ein bisschen ist noch übrig«, widersprach Blithildis. Sie unterdrückte ein Stöhnen. So unrecht hatte die Meisterin nicht. Die überstandene Krankheit steckte ihr noch in den Knochen, jede Bewegung tat weh, sie war schwach wie eine Greisin. Doch zumindest ihr Wille war stark. Entschlossen richtete sie sich auf und streckte sich. Ihr Körper hatte bereits weit Schlimmeres überstanden als dieses Fieber, und ihr Geist war völlig klar. Ihr Leben lag in geordneter Abfolge vor ihr, vom ersten Tag ihrer bewussten Kindheitserinnerungen bis zu dem Moment am frühen Morgen, als Sybilla zu ihr in die Kammer gekommen war und sich schockiert an der Wand abstützen musste, als Blithildis ihr eröffnete, dass sie ihr Gedächtnis zurückgewonnen hatte.
Mühsam ging sie auf und ab, in der Hoffnung, dass es mit jedem Schritt besser würde, doch es führte nur dazu, dass ihre Knie anfingen zu zittern und sie vor Erschöpfung kaum atmen konnte.
»Es sind noch drei andere von uns krank geworden, sie liegen mit hohem Fieber im Bett«, berichtete die Meisterin. »Hildegund hat es auch erwischt, außerdem Beata und Dorlein. Auch woanders scheint es umzugehen, ich hörte schon von weiteren Fällen.« Trocken fügte sie hinzu: »Wenigstens hat Gott es nicht allein auf unseren Konvent abgesehen. Und nun komm, du brauchst noch Ruhe.«
Fürsorglich führte sie Blithildis wieder zum Bett, doch zu ihrer Missbilligung wollte sich ihr Schützling nicht wieder hinlegen, sondern nur ein frisches Hemd aus der Kleidertruhe holen. »Ich muss zu Madlen«, sagte Blithildis. »Vor allem aber zu meinem Bruder.«
Die Meisterin setzte an, es ihr zu verbieten, aber eine ungewohnte Scheu hielt sie davon ab. Die Frau, die sie so viele Jahre lang als Juliana gekannt hatte, zeigte mit einem Mal trotz ihrer offenkundigen körperlichen Schwäche eine beinahe stählerne Unbeugsamkeit. Sie schien sich verändert zu haben; die Linien ihres Gesichts wirkten kantiger, ihr Blick klarer, beinahe bezwingend in seiner Eindringlichkeit. Es war fast, als suche sich ihr neu erwachter Geist einen Weg, sich über ihr Äußeres mitzuteilen.
Seufzend gab Sybilla nach. »Nun gut. Aber zu Fuß gehen wirst du nicht, und schon gar nicht allein. Ich lasse den Wagen anspannen und begleite dich.«
Hannibal stimmte sein ohrenbetäubendes Gebell an, wie immer, wenn jemand vorn am Tor Einlass begehrte. Anders als sonst hielten sie es jetzt stets geschlossen, niemand konnte wie früher tagsüber einfach hereinspazieren. Madlen spähte durch einen der vorderen Fensterläden im Schankhaus auf die Gasse hinaus. Dort stand ein Eselskarren und daneben Sybilla, die ausgesprochen sorgenvoll dreinschaute. Und am Tor wartete Juliana.
Mit heftig klopfendem Herzen lief Madlen hin, um zu öffnen, und als die Freundin dann vor ihr stand, blass und ausgezehrt von der schweren Zeit, die hinter ihr lag, übermannten sie die Gefühle. Weinend fiel sie der Begine in die Arme. »Ich hatte solche Angst um dich, Juliana!«
»Blithildis. Mein Name ist Blithildis.«
Erschüttert trat Madlen einen Schritt zurück. »Du hast dich erinnert?«
Blithildis nickte. Sie wirkte entschlossen, doch zugleich auch ein wenig ängstlich. »Wo ist Johann?«
»Hier.« Er tauchte hinter Madlen im Torbogen auf. Er war blass, in seinem Gesicht arbeitete es heftig. An seiner Wange zuckte ein Muskel, und Madlen sah, wie seine Hände zitterten. »Hast du … weißt du, wer ich bin?«
»Du bist mein Bruder. Ich erinnere mich an dich.« Sanft fügte Blithildis hinzu: »Es ist lange her, aber der Tag, an dem du fortgeritten bist, ist wieder fest in meinem Gedächtnis verankert. Die Sonne schien, und dein Haar glänzte so dunkel wie die Schwingen eines Raben. Du hast auf dem Schimmel gesessen, den Vater dir für den Kreuzzug geschenkt hatte, und die Schwertscheide an deinem Sattel leuchtete wie schieres Silber. Noch heller aber waren deine Augen. Du hast mich angelacht und mir zugewinkt, und du hast irgendetwas gerufen, das ich jedoch
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