Das Erbe der Braumeisterin - Thomas, C: Erbe der Braumeisterin
desto belebter wurden die Gassen. Fast wäre er über einen zerlumpten Bettler gestolpert, der in tief geduckter Haltung an den Häusern vorbeischlurfte. Er hatte nur noch ein Bein. Das andere endete unterhalb des Knies. Der Stumpf war an einem gegabelten Stock befestigt, der über die von Unrat bedeckte Gasse nachschleifte. Der arme Kerl behalf sich außerdem mit einer Krücke, die viel zu niedrig war, was ihn erst recht in eine Haltung zwang, die von jedem aufrechten Gang weit entfernt war. Er konnte fast mit der Nase den Boden aufwischen. Trotz der triefenden, vereiterten Augen schien er noch gut genug sehen zu können, denn die von Schrunden verunstaltete Hand griff zielsicher in Jacops Richtung.
»Edler, hochwohlgeborener Herr, gebt einem halb verhungerten Mann Geld für einen kleinen Wecken!«
Das Bettelvolk gehörte zu Köln wie der Rhein. In niemals versiegendem Strom mäanderte es durch die Stadt, ergoss sich in jeden erreichbaren Winkel, floss in Kirchhöfe und Märkte, überspülte die Gassen und Plätze. Nun, da die Fastenzeit begonnen hatte, gingen die Armen sogar von Tür zu Tür und baten um Almosen. Man konnte keinen Schritt tun, ohne über einen von ihnen zu fallen. Ganze Heerscharen Lahmer und Blinder umlagerten die Kirchpforten, man gelangte nicht zur Messe, ohne sich vorher durch das Gewühl der Bedürftigen zu kämpfen, und manchmal folgten sie einem sogar hinein, krochen und humpelten auch während der Andacht bettelnd zwischen den Gläubigen umher, obwohl es verboten war.
»Eine kleine Gabe für den Ärmsten der Armen!« Der Einbeinige schien das Geld in Jacops Hand riechen zu können. »Nur eine winzige Münze! Ich habe seit zwei Tagen nichts gegessen!«
»Daran hast du wohlgetan, denn es ist Fastenzeit.« Jacop hielt seine Barschaft fest umklammert, schlug einen Haken um den Bettler und eilte weiter. Er hatte nun mal bloß drei Pfennige, und die brauchte er für Appolonia.
Zu seinem grenzenlosen Verdruss musste er sie bezahlen, und zwar jedes Mal. Wenn er es öfter als einmal mit ihr tun wollte, sogar doppelt.
»Ich dachte, du liebst mich«, hatte er verstört und gekränkt eingewandt, als sie damals bei ihrer zweiten Zusammenkunft wieder Geld von ihm gewollt hatte, obwohl sie ihm schon beim ersten Treffen gestanden hatte, wie sehr er ihr Herz verzaubert habe.
»Natürlich liebe ich dich, sehr sogar! Tief in meinem Inneren weiß ich, dass du der Einzige für mich bist! Aber schau, wenn du mir kein Geld gibst, muss ich es von anderen nehmen, denn wovon sollen Kunlein und ich sonst leben? Wir müssen essen und trinken und uns kleiden.« Sie hatte ihren seidenen, verführerisch eng gegürteten Surcot berührt. »Solche Kleider sind sehr teuer. Und der Wein, den du gerade getrunken hast, ist es nicht minder. Woher soll das kommen, wenn nicht von ausreichend Geld? Du willst doch nicht, dass mich auch andere Männer besuchen, oder? Zumindest nicht so viele. Wenn du mir also Geld gibst, kann ich auf das von ein paar anderen verzichten.«
Das war von so bezwingender Logik, dass es Jacop sofort eingeleuchtet hatte. Trotzdem störte es ihn. Deshalb gab es nur eine Möglichkeit: Er brauchte mehr Geld, dann müsste sie überhaupt keine anderen Männer mehr in ihr Haus lassen.
Auf sein Klopfen öffnete ihm Kunlein, Appolonias Base.
»Gott zum Gruße, Jacop.«
Jacop erwiderte den Gruß nur halbherzig. Ihm missfiel, wie Kunlein gekleidet war. In diesem durchsichtigen Nichts und mit dem herabwallenden Haar erweckte sie ganz offen den Eindruck, eine Dirne zu sein, und er fürchtete, dass das womöglich auf Appolonia zurückfiel. Kunlein war eine dralle Frau mit schweren Brüsten und einem breiten, immer lächelnden Gesicht. Auch sie empfing Männer, denen sie dann oben in ihrer Kammer Gesellschaft leistete, aber sie nahm nicht so viel Geld dafür wie Appolonia.
»Das hat nichts damit zu tun, dass es ihr mehr Spaß macht als mir und sie deshalb keinen Wert aufs Geld legt«, hatte Appolonia tadelnd angemerkt, als Jacop kürzlich den Fehler begangen hatte, diese Vermutung zu äußern. »Sie ist einfach nur drei Mal schneller fertig. Dadurch kann sie auch drei Mal so viel Besuch haben. Wenn du verstehst, was ich meine. Ist es das, was du möchtest? Nach einer Viertelstunde wieder verschwunden sein? Damit ich mehr Zeit für die anderen habe?«
Das kam für Jacop nicht infrage. Schließlich liebte er Appolonia, und sie liebte ihn.
Zu seinem Schrecken war Hermann im Haus. Er hockte in der großen
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