Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
die Dinge in eine Richtung entwickeln können, die Wulf sich nicht einmal ausmalen wollte. Mit einem leisen Brummen vertrieb er die unangenehmen Gedanken und lenkte seine Aufmerksamkeit auf die vor ihm liegende Aufgabe. Da er mit Freude von Bolko vernommen hatte, dass der Junge seinem neuen Namen allmählich alle Ehre machte, hatte er beschlossen, ihn an diesem wunderbaren Sommertag in einige Geheimnisse der Pferdezucht einzuweihen. Weshalb er seinem Sohn befohlen hatte, während des Nachmittages einige der Vollblüter auf dem Reitplatz zu bewegen und danach auf der Weide auf ihn zu warten.
Mit zunehmend federnden Schritten überquerte er den Hof, eilte den Anstieg zu den Koppeln hinauf und kletterte leichtfüßig über den hölzernen Zaun, der das Areal umfing. Beinahe übermütig schlug er nach einem torkelnden Zitronenfalter, der ihm allerdings geschickt auswich. Er musste endlich wieder anfangen, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Jetzt, wo seine Gattin wieder ein Kind von ihm in sich trug, würde sich auch alles andere zum Guten wenden! Wenn seine Glückssträhne anhielt, würden schon bald Fröhlichkeit und Zufriedenheit unter seinem Dach herrschen. Lachend tätschelte er einer der trächtigen Araberstuten den Hals, als diese ihn mit einem fordernden Schnauben um einen Leckerbissen anbettelte.
»Später«, versprach er, verabschiedete sich mit einem liebevollen Klaps auf ihre Kruppe und steuerte auf das entgegengesetzte Ende der Koppel zu, wo sein Sohn mit einem der frechen Einjährigen herumtollte. »Er ist prachtvoll, nicht?«, fragte er und schmunzelte, als er die beinahe kindliche Freude auf den sonst so ernsten Zügen des jungen Mannes erblickte.
»Ja«, erwiderte dieser und steckte dem jungen Hengst eine weitere Mohrrübe zu. »Jetzt reicht es aber.« Mit der Andeutung eines Lächelns schob er das ungestüme Jungtier von sich und klopfte sich die Hände an den erdfarbenen Hosen ab. Die breiten Schultern bedeckte ein einfaches Hemd, das an einigen Stellen Grasflecken aufwies. Während er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete, verdunkelten sich die bernsteinfarbenen Augen, und der düstere Ausdruck kehrte auf das braun gebrannte Gesicht zurück. Der von zwei Grübchen eingerahmte Mund verhärtete sich unmerklich, als Wulf einen heimlichen Blick über die Schulter seines Vaters nach Süden schickte.
Er ist nervös, schoss es Wulf von Katzenstein durch den Kopf, der die Zeichen so deutlich lesen konnte, als habe sein Sohn die Gedanken, die ihn bedrückten, laut ausgesprochen. Wie viel Kraft es ihn kosten musste, tatenlos zu warten, bis der Bote mit der jungen Frau aus Ulm zurückkehrte! Er verkniff sich die aufmunternden Worte, die ihm auf der Zunge lagen. Aus eigener Erfahrung wusste er nur zu genau, wie erniedrigend es war, wenn trotz aller Anstrengungen die so mühsam verborgenen Ängste und Nöte für andere deutlich zu sehen waren. Stattdessen drosch er seinem Sprössling derb auf den Rücken und deutete auf eine zweite, kleinere Koppel, auf der sich ein halbes Dutzend schneeweißer Araberstuten drängte.
»Komm. Es gibt viele Dinge, die man bei der Zucht beachten muss«, sagte er und stakste durch das an dieser Stelle kniehohe Gras, das trocken raschelte. Behände öffnete er das Koppeltor, das im nächsten Frühjahr einen neuen Anstrich benötigen würde, und beobachtete Wulf aus dem Augenwinkel.
Als spüre er die verhohlene Betrachtung seines Vaters, ließ Wulf wie verbrannt die Hand sinken, mit der er sich durch den pechschwarzen Schopf gefahren war. Einzig das leichte Vibrieren seiner Nasenflügel verriet die Anspannung, unter der er stand, doch ansonsten zeigte seine versteinerte Miene keinerlei Gefühlsregung.
Bei den Stuten angekommen, griff der Katzensteiner – fest entschlossen vorzugeben, dass ihm die gedrückte Stimmung nicht auffiel – nach dem Halfter einer Dreijährigen, öffnete ihr Maul und wies auf die gleichmäßigen Zähne. »Einer der wesentlichsten Faktoren ist das Alter. Der Spruch, dass man einem geschenkten Gaul nicht ins Maul sieht, beinhaltet viel mehr als bloße Höflichkeit«, scherzte er lahm, wurde jedoch sofort wieder ernst. »Je älter das Tier, desto länger und vorstehender die Zähne«, belehrte er den jungen Mann, der den Kopf schräg gelegt hatte, um bis in den Rachen zu sehen. »Wenn dir jemand einen Gaul andrehen will, dessen Schneidezähne bereits fast waagerecht sind, dann weißt du, dass du einen Betrüger vor dir hast. So ein Tier taugt nur
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