Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
das ihn auf dem Pferdemarkt betäubt hatte, drohte erneut, ihn zu übermannen, doch im letzten Moment gewann sein Trotz die Oberhand. Immerhin lag Ulm nahe der Grenze der Grafschaft, wohingegen Eberhards Residenz sich in Stuttgart befand! Auch hatte der Graf mit dem unterzeichneten Dokument das erhalten, was er wollte; warum sollte er dann noch Interesse an dem Bastard seiner Schwester haben?
Er stieß die Luft aus, die er unwillkürlich angehalten hatte. »Ich werde Anweisungen geben, dass du morgen bei Tagesanbruch aufbrechen kannst«, murmelte er gepresst und fragte sich, welcher Teufel ihn geritten hatte, den Vorschlag zu machen, nach der Kleinen zu suchen.
Nachdem sie sich noch einige Herzschläge lang schweigend gemustert hatten, gewannen beide ihre Fassung zurück, und während die Dämmerung allmählich die Farben der Landschaft verblassen ließ, steuerten sie Schulter an Schulter auf die Zugbrücke zu. Vor Betreten des Burghofes rückten Vater und Sohn beinahe gleichzeitig dieselbe ausdruckslose Maske zurecht, die signalisierte, dass sie wieder Herr der Lage waren.
Kapitel 45
Burg Katzenstein, 8. August 1368
Am nächsten Morgen war Wulf bereits vor dem ersten Hahnenschrei auf den Beinen. Aufgewühlt, voller Hoffnung und zugleich bange, hatte er die Nacht schlaflos verbracht und all die Knoten in seinem Verstand gelöst, die ihm so lange Zeit Kopfzerbrechen bereitet hatten. Nachdem allmählich die Lähmung von ihm abgefallen war, die der Schrecken ihm bereitet hatte, war es ihm auf dem unbequemem Strohlager endlich gelungen, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Er hatte sämtliche Möglichkeiten im Geist durchgespielt. Wenngleich er den Drang aufzubrechen zuerst einzig auf die Furcht um Brigittas Wohlergehen geschoben hatte, war ihm im Laufe der langen, durchgrübelten Nacht etwas klar geworden. Es war viel mehr, das ihn dazu trieb, die Burg seines Vaters wohl für immer zu verlassen.
Die Tatsache, dass der Bote seine Geliebte nicht vorgefunden hatte, musste bedeuten, dass sie sich in Sicherheit gebracht hatte – denn sie war nicht nur wunderschön, sondern auch klug und mutig. Sie konnte nicht tot sein! Oft hatte er sich während der vergangenen Wochen eingeredet, dass er es gespürt hätte, wenn ihr etwas zugestoßen wäre, und diese Überzeugung hatte sich in der Nacht verstärkt. Tief am Grund seiner Seele wusste er, dass sie wohlauf war und darauf wartete, dass er sie fand. Allerdings hatte sich zu diesem Gefühl der Gewissheit schon bald eine nagende Angst gesellt, die er zuerst nicht hatte festmachen können – bis ihm klar geworden war, dass auch Ortwin nach ihr suchen musste.
Während die Schmetterlinge in seinem Bauch einen tollen Tanz vollführten, kramte Wulf mucksmäuschenstill seine Siebensachen zusammen, schnürte sein Bündel und schlich sich aus dem Knappenquartier, in dem die übrigen Burschen noch tief und fest schliefen. Zwar hätte er sich gerne von ihnen verabschiedet, doch der Umstand, dass er sie vermutlich nie wiedersehen würde, berührte ihn weniger als er gedacht hatte.
Dies war einer der vielen Gründe, warum er voraussichtlich nicht nach Katzenstein zurückkehren würde – ganz egal, was geschah: Zwar hatten Bruno von Hürben und Johann von Falkenstein ihn gutmütig in ihre Mitte aufgenommen, doch würde er niemals das Gefühl haben, wirklich zu ihnen zu gehören. Anders als Hans, Lutz und all die anderen Steinmetzgesellen, mit denen er in Ulm Freundschaft geschlossen hatte, behandelten ihn die Knaben trotz aller Freundlichkeit stets mit einem Hauch von Reserviertheit und Herablassung, die selbst die herausragendsten Leistungen auf dem Kampfplatz nicht auszulöschen vermochten. Er gehörte nicht hierher. Diese Erkenntnis hatte sich mit kristallener Klarheit aus all der Verwirrung herausgeschält. Weder würde er jemals die hochtrabenden ritterlichen Werte verinnerlichen, die Bolko ihnen einzutrichtern versuchte, noch dieselbe losgelöste Freude an all den Waffen- und Turnierübungen empfinden wie die anderen Knappen. Seine Leidenschaft galt dem Erschaffen von Kunstwerken, dem Schöpfen und Bauen, nicht dem Zerstören, Töten und Erschlagen.
Mit einem letzten Blick auf die kleine Kammer setzte er den Fuß auf die Leiter und stieg hinab in den Hof. Der Himmel über dem hoch aufragenden Katzenturm zeigte bereits die ersten silbernen Streifen der Morgendämmerung, und ein leichter Nebel verwischte die Konturen der Burg. Einige Zeit lang betrachtete er das prächtige
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