Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
über ihm aufragte. Eingeschüchtert von der körperlichen Präsenz des jungen Mannes senkte dieser nach einem kurzen Blickduell gänzlich unherrschaftlich den Blick und hob mit einer resignierten Geste die Hände. »Was immer es ist, das Ihr von mir wollt, es muss warten. Ich habe eine dringende Verabredung mit dem Herrn Bürgermeister.«
Das letzte Wort betonte der Steinmetz besonders, und wäre Wulf nicht so ungehalten gewesen, hätte das Gebaren ihn amüsiert. Offenbar erkannte der große Ulrich von Ensingen seinen ehemaligen Gesellen nicht! Diese Beobachtung hätte Wulf unter anderen Umständen hämische Freude bereitet, doch er war zu sehr in Eile, um sich auf Spielchen einzulassen. Selbst erstaunt über das neu gewonnene Selbstvertrauen, pumpte er sich auf und wollte Ulrich gerade mit allerhand Unschmeichelhaftem konfrontieren, als von links ein erzürnter Heinrich von Husen nebst einem halben Dutzend Ratsherren auf sie zugerauscht kam.
»Ich nehme an, Ihr wisst, wo ich wohne«, bemerkte Ulrich von Ensingen – sichtlich erleichtert über die Ankunft der Männer – und rang um die verlorene Souveränität. »Kommt in zwei Stunden zu mir, dann beantworte ich Euch all Eure Fragen.«
Der Widerspruch, der Wulf auf den Lippen lag, ging unter in dem lautstarken Protest, den Ulrichs Begleiter anstimmte, kaum waren die Ratsherren in Hörweite.
»Verdammt!«, presste der junge Katzensteiner zwischen den Zähnen hervor, als die aufgeputzten Besucher der Baustelle sich wie eine Woge um Ulrich und seinen Begleiter schlossen und sie hinwegspülten. »Verdammt, verdammt, verdammt!« Zornig drosch er die Faust in die Handfläche, was jedoch lediglich dafür sorgte, dass diese höllisch brannte. Noch mehr verlorene Zeit!
Kapitel 49
Ulm, 9. August 1368
Nachdem Wulf den sich entfernenden Männern eine Zeit lang fassungslos hinterhergestarrt hatte, stieß er einige weitere, unschöne Verwünschungen aus und zog den mit einer Feder geschmückten Filzhut vom Kopf. Grob fuhr er sich mit den Fingern durch die schweißverklebten Haare, während sich seine Gedanken überschlugen. Auf keinen Fall konnte er es sich leisten, untätig herumzusitzen und darauf zu warten, bis Ulrich seinen Streit mit den Ratsherren beigelegt hatte. Dazu hatte er zu viele Geschichten über die endlosen Sitzungen in der Ratshalle gehört. Es war zum Mäusemelken! Unentschlossen tätschelte er einige Zeit lang mechanisch den Hals seines Falben und grübelte darüber nach, wie er auch ohne den Werkmeister an die Informationen gelangen konnte, die er so dringend benötigte.
Er hatte sich gerade so an einer unvollendeten Fiale festgesehen, dass diese vor seinen Augen zu einem zweifachen Bild verschwamm, als ihn der Einfall die flache Hand vor die Stirn schlagen ließ. Manchmal sah man einfach den Wald vor lauter Bäumen nicht! Wer sagte denn, dass er Ulrich überhaupt brauchte? Mit neuem Mut warf er den Zügel über den Hals des Wallachs und machte Anstalten, sich ein weiteres Mal an diesem Tag in den Sattel zu schwingen, als ihn eine glockenklare Stimme innehalten ließ.
»Wulf?!« Die Ungläubigkeit sorgte dafür, dass sich der helle Tenor beinahe überschlug. »Bist das wirklich du, Wulf?«
Kaum hatte der junge Mann die Hand vom Sattelknauf genommen und sich zu dem Sprecher umgewandt, als ihm dieser auch schon kameradschaftlich die Rechte auf den Oberarm klatschte.
»Er ist es tatsächlich. Mensch, hast du dich verändert!«, krähte der Begleiter des sommersprossigen Knaben, dessen froschgrüne Augen schelmisch funkelten.
»Erlaubt uns, Euch zu Diensten zu sein, edler Herr«, frotzelte der hoch aufgeschossene Zweite, dessen dunkle Locken wild von seinem Kopf abstanden. Damit verneigte er sich vor Wulf, bevor auch er Wulfs Rücken freundschaftlich malträtierte.
»Hans, Lutz!«, rief der so überschwänglich Begrüßte überrascht aus und blickte mit einem schiefen Grinsen an sich hinab. »Da staunt ihr, was?«
»Das tun wir in der Tat«, versetzte der dunkelhaarige Lutz ebenfalls feixend. »Was ist denn mit dir geschehen?«
Ein kaum wahrnehmbarer Schatten huschte über Wulfs Gesicht, bevor er abwehrend die Hände hob und zurückgab: »Ich würde euch gerne die ganze Geschichte erzählen, aber dafür ist jetzt keine Zeit.« Er zog die Brauen zusammen und beugte sich nach vorne. »Ich muss Brigitta finden. Wisst ihr, wo sie ist?« Beinahe flehend suchte er im Blick der beiden Steinmetze nach einem Hinweis, doch seine Hoffnung wurde
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