Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
schnurstracks auf die Münsterbaustelle zusteuern, von der aus es keine halbe Meile mehr bis zum Haus ihres Vaters war. Zwar war sie bisher nie von den gepflasterten Straßen abgewichen, doch was sollte ihr schon geschehen? Geld hatte sie keines, und auch ansonsten trug sie nichts bei sich, das zu stehlen sich gelohnt hätte. Mit einem Achselzucken duckte sie sich unter einer Wäscheleine hindurch und betrat eines der weniger feinen Viertel der Stadt, in dem Tagelöhner, Krämer und Kleinbäcker sich den Platz teilten. Je weiter sie in das Gewirr der engen Gässchen eintauchte, desto dunkler wurde es, da die obersten Stockwerke der gegenüberliegenden Häuser sich beinahe berührten. Wenngleich sie es sich nicht eingestehen wollte, bedauerte sie bereits nach wenigen Minuten ihren Mut, der sie weitab geführt hatte von dem Weg, den sie für gewöhnlich benutzte. Dunkel glotzten ihr die unverglasten Fensterluken der schäbig wirkenden Katen entgegen, und aus manch einem Winkel drang das Gebrüll eines Betrunkenen oder das Weinen eines Kindes. Ein durch die Gasse schallender Schlag ließ Brigitta zusammenfahren und die Röcke raffen, um schneller das hell lockende Ende des schmalen Durchganges zu erreichen. Als sie mit hämmerndem Herzen auf der Rückseite der gewaltigen Baustelle angelangt war, hielt sie zitternd an, um Atem zu schöpfen und ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen. Das nächste Mal würde sie abwarten, bis das Hindernis aus dem Weg geschafft war!, schwor sie sich und befeuchtete die trockenen Lippen. Schaudernd blickte sie über die Schulter zurück in den dunkel gähnenden Schlund, in dem allerlei Schreckensbilder zu tanzen schienen. Es wäre besser, diese Dummheit für sich zu behalten, da ihr ansonsten eine Standpauke drohte, die sie vermutlich nicht so bald vergessen würde. So schnell sie ihre Beine trugen, eilte sie auf die hell erleuchtete Bauhütte zu, aus der fröhlicher Zechlärm an ihr Ohr drang.
Die sich hinter den beschlagenen Scheiben drängenden Silhouetten der grölenden Steinmetze flößten ihr umgehend ein Gefühl der Zuversicht ein. Als sie kurz darauf ein leises Wimmern vernahm, hatte sie wieder so viel Selbstsicherheit gewonnen, dass sie ohne nachzudenken das Holzlager zu ihrer Linken betrat, um der Herkunft des jämmerlichen Lautes auf den Grund zu gehen. Da die Balken, Bretter und Stangen im Schatten der Chortürme lagerten, herrschte innerhalb der Umzäunung beinahe vollkommene Finsternis. Erst als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte Brigitta das winzige Kätzchen. Wie eine flauschige Schneeflocke hob sich das Tier von dem Hintergrund des dunklen Backsteines ab, vor den es sich schutzsuchend gekauert hatte. Wie es ihm gelungen war, den übermannshohen Stapel Schalbretter zu erklimmen, war Brigitta ein Rätsel, doch es war offensichtlich, dass das Fellknäuel sich vor der Höhe fürchtete.
»Hab keine Angst«, sagte sie beruhigend und setzte den Fuß auf einen hervorstehenden Balken, um nach dem bebenden Tierchen zu greifen. Obwohl es die Krallen in das weiche Holz grub, gelang es ihr mühelos, das Kätzchen aus seiner prekären Lage zu befreien und an die Brust zu drücken, um ihm sanft über den Rücken zu streicheln. Zwar wimmelte es im Haus ihres Vaters bereits von Katzen, doch da auch die Mäuse und Ratten stetig an Zahl zunahmen, würde bestimmt niemand etwas gegen einen Neuzugang einzuwenden haben. Ohne sich Gedanken um ihre Fucke zu machen, ließ Brigitta sich auf einem Holzklotz nieder, um das Tier in ihren Schoß zu betten und so weit zu beruhigen, dass sie es in ihren Korb setzen konnte. Während sie das makellose Weiß des Fells bewunderte, verschmolz um sie herum der Lärm aus der Trinkstube mit dem Kreischen der Schwalben und dem Gemurmel der Stadt.
Kapitel 14
Ulm, Anfang Juni 1368
»Alle Weiber sind von Natur aus lüstern und falsch. Wenn man sichergehen will, dass die eigene Braut einen nicht mit einem anderen betrügt, sollte man sie noch in der Hochzeitsnacht den Gürtel spüren lassen!« Ortwins Stimme war rau vom Wein. »Dann weiß sie, was ihr bevorsteht, wenn sie sich nicht fügt.« Er verzog den Mund zu einem anzüglichen Grinsen. »Man sollte es allerdings nicht übertreiben, sonst kommt der Spaß zu kurz.« Diese Ausführung erntete das brüllende Gelächter der in der Trinkstube versammelten Männer, und einzig Wulf, Lutz und einige der jüngeren Gesellen schüttelten missfällig den Kopf.
»Was für ein Widerling!«,
Weitere Kostenlose Bücher