Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
ihn schwindelig einen Punkt in der Ferne wählen, den er angestrengt fixierte.
Unaufhaltsam näherte sich der Zug einem breiten Tal, das auf der Linken mit einem kleinen See abschloss, während sich auf der rechten Seite ein schroffer Felsen erhob, von dem eine mächtige Ringburg das Land überschaute. Ein kleines Bächlein schlängelte sich am Fuß des Bollwerks zwischen hohem Gras und Büschen bis in das Dorf, dessen bescheidene Katen etwas Einladendes an sich hatten. Auf saftigen, leicht hügeligen Weiden drängten sich Schafe und Kühe, und auch der dichte Tannenwald, der die Ansiedlung in einiger Entfernung umrahmte, wirkte üppig und wildreich. Vor ihm zügelte Wulf von Katzenstein sein Reittier und wartete, bis sein Sohn zu ihm aufschloss.
»Katzenstein«, verkündete er stolz und wies auf das imposante Bauwerk, auf dessen Bergfried ein buntes Banner flatterte. »Willkommen zu Hause!« Die Wärme, mit der der Ritter diese Worte äußerte, ließ Wulf das Herz eng werden. So viel lag in dem Blick, mit dem der Hüne seinen Sohn bedachte, dass dieser ihm beschämt auswich.
»Auch ich hätte mir gewünscht, dass wir uns unter anderen Umständen kennenlernen«, sagte der Katzensteiner nach einigen Augenblicken des zögernden Betrachtens, in denen er in dem jungen Mann zu lesen versuchte. »Und vor allem früher.« Er legte die behandschuhte Rechte auf den Zügel des Wallachs. »Aber ich kann dem Herrn niemals genug dafür danken, dass ich dich endlich gefunden habe!«
Wulf hob den Blick und befeuchtete die trockenen Lippen. »Ich danke Euch, Vater«, stieß er schließlich mühsam hervor. »Ich werde alles tun, um mich Eures Vertrauens würdig zu erweisen.«
»Mach dir keine Sorgen, Junge«, ermunterte ihn der Ritter. »In deinen Adern fließt das Blut eines Katzensteiners. Alles, was du benötigst, wurde dir in die Wiege gelegt.« Damit trieb er sein feuriges Tier wieder an, um an der Spitze der Abordnung den steilen Anstieg zur Zugbrücke hinaufzutraben.
Ja, dachte Wulf bitter. Aber nicht nur das Kämpfen. Auch das Lügen, Betrügen und sein eigen Fleisch und Blut hintergehen! Bei dem Gedanken an seinen Onkel, Karl von Helfenstein, stieg ihm bittere Galle in die Kehle. Als er erfahren hatte, dass er es gewesen war, der ihn beobachtet und an Eberhard von Württemberg verkauft hatte, hatte er das Haus der Helfensteiner bis in alle Ewigkeit verwünscht.
Der imposante Anblick der sich hebenden Zugbrücke ließ ihn die Überlegungen zur Seite schieben, und als er hinter seinem Vater in den gepflasterten Burghof einritt, blieb ihm vor Staunen der Mund offen stehen. Kaum waren sie aus dem Schatten des Torbogens aufgetaucht, strömte ihnen eine Schar von Bediensteten entgegen, die augenblicklich nach Zügeln und Steigbügeln der Ankommenden griffen.
Rechts von Wulf erstrahlte ein schneeweiß getünchter Fachwerkbau, in dem die Stallungen untergebracht zu sein schienen. Links daran schlossen ein Wehrgang und ein vierstöckiger Palas an, neben dem sich – halb von einer Mauer verborgen – ein uralt wirkender Bergfried erhob. Ebenfalls von einem Teil der Mauer zu seiner Linken verborgen, erstreckten sich ein Wohnbau mit mehreren hölzernen Balkonen und eine Unzahl von kleineren und größeren Höfen. Ein Getreidespeicher ergänzte die imposante Anlage.
Der junge Mann ließ sich gerade ungelenk aus dem Sattel gleiten, als eine zierliche, flachsblonde Frau die Treppen des Palas hinabflog, um Wulf von Katzenstein mit einem glücklichen Lächeln zu begrüßen. Das gedeckte, ockerfarbene Gewand, das ihrer schlanken Figur schmeichelte, unterstrich die Farbe ihrer wasserblauen Augen, die zusammen mit den geröteten Wangen ihre zarte Schönheit betonten. Beinahe zwei Köpfe kleiner als der Ritter, musste sie sich auf die Zehenspitzen recken, um ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken.
Wenngleich sich bei ihrem Anblick ein seltsamer Ausdruck auf das Gesicht seines Vaters stahl, versteifte sich dieser, bevor er sich wieder zu seiner vollen Größe aufrichtete und förmlich verkündete: »Meine Gemahlin.« Er winkte Wulf näher. »Ich habe jemanden mitgebracht.« Erst nachdem der junge Mann sich höflich verneigt hatte, setzte er hinzu: »Das ist Wulf, mein Sohn.«
Ein Hagel brennender Geschosse aus heiterem Himmel hätte keinen größeren Eindruck erzielen können. Als habe ihr Gemahl sie vor aller Augen geohrfeigt, zuckte die junge Frau zurück, fasste sich jedoch so schnell, dass Wulf dachte, er habe sich geirrt. Die
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