Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
Verblüffung, die das herzförmige Gesicht in die Länge gezogen hatte, wich innerhalb weniger Lidschläge einer reglosen Maske, und hätte er nicht die Flamme des Hasses in ihren Augen lodern sehen, hätte Wulf sich täuschen lassen. So jedoch hörte er die klirrende Schärfe, die in ihren Worten mitschwang, als sie ihm huldvoll zunickte und an Wulf von Katzenstein gewandt sagte: »Eure Gebete sind erhört worden, Gemahl.«
So viel zu einem herzlichen Willkommen!, dachte Wulf beklommen, als der Bienenschwarm der Bediensteten sich um ihn und seinen Vater schloss.
Kapitel 30
Kurz vor Altheim, Ende Juni 1368
»Verschwindet!«
Der wütend geschleuderte, faustgroße Felsbrocken flog so dicht an Brigittas Ohr vorbei, dass sie deutlich das Pfeifen vernahm, mit dem er die Luft durchschnitt. Außer sich vor Unmut schwangen die Bewohner des kleinen Fleckens, in dem sie um Brot gebettelt hatten, Dreschflegel, Mistgabeln und Knüppel und setzten den Fliehenden mit aufgebrachtem Geheul nach.
»Teufelsbrut!«, kreischten einige zerlumpte Frauen, deren Haar verfilzt und schmutzig von ihren Köpfen abstand.
»Missgeburten!«, stimmten die Männer, die den Fliehenden am nächsten waren, in den Chor mit ein, und einer von ihnen warf sogar einen mit einer Eisenspitze bewehrten Stab.
Der auffrischende Wind trieb Brigitta Staub und Schmutz in die Augen, und hätte Bruder Thomas sie nicht gewarnt, wäre sie über eine tückische Baumwurzel gestolpert. So fing sie sich im allerletzten Moment, und obgleich ihr ein stechender Schmerz in den Knöchel fuhr, als sie mit einem Sprung über das Hindernis hinwegsetzte, hastete sie kopflos weiter in Richtung Wald. Nur noch wenige Steinwürfe trennten sie von dem schützenden Dickicht, und während das Gebrüll der Verfolger zu einem wahren Orkan anschwoll, konzentrierte Brigitta sich auf das immer näher kommende Unterholz. Mit einem dumpfen Geräusch traf ein kantiger Klotz Clementine im Rücken, doch das Eingreifen des Mönches verhinderte, dass Brigittas Schwester durch die Wucht des Aufpralls zu Boden ging.
»Schneller!«, keuchte Thomas und griff die beiden Frauen am Arm, um sie ohne Rücksicht auf deren abgehackte Atemstöße auf den Schutz des Strauchwerkes zuzuziehen. Mit einem derben Stoß beförderte er sie in die stacheligen Arme eines Brombeergestrüpps, das ihre ohnehin schäbigen Kleider zerfetzte.
»Beeilt euch«, drängte er, nachdem er sich ebenfalls durch die Stauden gezwängt hatte und wies mit zitterndem Finger auf einen verschlungenen, von tief hängenden Ästen überwucherten Weg, der sich bereits nach wenigen Schritten im Dunkel verlor. »Dorthin werden sie uns nicht folgen.«
Einzig das Knacken der dürren Äste und ihr heftiges Atmen durchbrachen die dumpfe Stille, die selbst das Gebrüll der Bauern zu einem Gemurmel dämpfte. Der feuchte, moosbewachsene Waldboden erschwerte das Vorwärtskommen, doch aus einem unerfindlichen Grund schienen die Dorfbewohner die Verfolgung tatsächlich aufgegeben zu haben. Lediglich hie und da brach noch ein Stein oder Lehmklumpen durch das dichte Laubdach, und als Brigitta sich nach einiger Zeit furchtsam umblickte, war der Waldrand bereits zu einem schwachen Lichtstreifen verblasst.
Prustend, mit einem Griff an ihre stechende Seite, verlangsamte sie die Schritte. »Ich kann nicht mehr«, presste sie hervor und verzog das Gesicht, da der Schmerz in ihrem Knöchel allmählich zunahm.
»Hier entlang«, erwiderte Thomas, der ebenfalls aufgehört hatte zu rennen, und deutete nach Norden. »Wenn wir uns beeilen, können wir noch heute Altheim erreichen.« Ohne ein Wort über das Vorgefallene zu verlieren, schob er Brigitta und Clementine je einen Arm unter die Achseln und führte die Frauen tiefer in den undurchdringlichen Forst. Lange Zeit stolperten und tasteten sie sich schweigend durch das Tannen- und Eichendickicht, bis Thomas endlich auf einer kleinen Lichtung eine Rast erlaubte. Da sie nichts mehr zu essen hatten, mussten sie sich mit Wasser aus den Trinkflaschen begnügen, und nicht nur Brigittas Magen rebellierte vernehmlich. Nachdem sie das wenige Geld, das sie besessen hatten, für Wegzehrung verbraucht hatten, hatten sie die letzten beiden Nächte unter freiem Himmel zugebracht; und als auch die mageren Vorräte zur Neige gegangen waren, hatten sie beschlossen, um Brot zu betteln. Was sich als Fehler erwiesen hatte.
Brigitta schloss erschöpft die Augen und genoss einen Augenblick die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut.
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